Warum wir in einer veloziferischen Ära leben

Das Beschleunigungsregime

Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa zählt zu jenen Wissenschaftlern, die vor den Folgen der Veränderung unserer Zeitstruktur auf das Individuum, die Familie, die Gesellschaft insgesamt warnen. Wir seien, sagt Rosa, am Rande der Erschöpfung und am Rande des Sinnvollen angelangt.

Die Moderne als panische Reaktion?

Manchmal fragen mich die Leute nach Vorträgen, ob mein Interesse für Beschleunigung mit meinem hohen Redetempo zusammenhängt. Ich antworte dann meistens, dass ich da eher eine Verbindung zu meinem langsamen Essenstempo sehe: Da ich sehr langsam esse, bin ich am Tisch meistens der Letzte, was dazu führt, dass die anderen unruhig auf den Tisch trommeln und mich unter Beschleunigungsdruck setzen. Aber wirklich angefangen, mich für Beschleunigung zu interessieren, habe ich, als ich über ein Ödon von Horvath zugeschriebenes Bonmot nachdachte, das da lautet: "Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm' ich so selten dazu".

Das traf irgendwie genau meine Lebenserfahrung: Man hetzt von Termin zu Termin, mal privat, mal beruflich, und hat dabei das Gefühl, nie zu den Dingen zu kommen, die einem wirklich wichtig sind. Und da wollte ich eben wissen, ob das an mir selbst liegt, ob ich also etwas falsch mache, oder ob man auf diese Weise einem Strukturproblem moderner Gesellschaften auf die Spur kommt. Und siehe da - je länger ich darüber nachgrübelte und nachforschte, umso klarer zeigte sich: Das Problem ist sozusagen in die Wurzeln der Moderne eingelassen.

Ein ewiges Leben vor dem Tod

Vielleicht wird uns die Zeit in der Moderne so knapp, weil diese Moderne eine panische Reaktion auf die Gewissheit unseres Todes ist, wie manche Kulturhistoriker meinen, die sie auf die Zeit der schwarzen Pest zurückführen: In einer säkularen Gesellschaft, die kaum Hoffnungen auf ein Leben nach dem Tod setzt, bildet Beschleunigung gewissermaßen einen Ersatz für Vorstellungen vom ewigen Leben. Zwar müssen wir nach 70 oder 80 Jahren definitiv sterben, aber wir können das, was wir in einem Leben an "Welt" oder an Erlebnismöglichkeiten auszuschöpfen vermögen, dadurch verdoppeln, dass wir alles schneller machen.

Wenn wir doppelt so schnell leben, können wir zwei Lebenspensen im Sinne von Erfahrungsmöglichkeiten in einer Lebensspanne unterbringen. Und wenn wir gleichsam unendlich schnell werden, können wir auch noch unendlich viel tun, erleben und erfahren, bevor wir sterben müssen. Wir haben sozusagen ein ewiges Leben vor dem Tod. Leider funktioniert diese Theorie in der Praxis schlecht. Ich habe in meinem Buch "Beschleunigung" zu zeigen versucht, dass gerade aufgrund dieser Strategie die echten Erfahrungen zu verschwinden drohen und unsere Lebenszeit rascher zu vergehen scheint.

Davon abgesehen verknappt aber auch die kapitalistische Organisation des Wirtschaftssystems fortwährend Zeit: Zeit ist Geld, lautet hier die Kurzformel und Geld ist notorisch knapp. Es gibt also mehrere Wurzeln der modernen Beschleunigungsobsession, die sich inzwischen zu einem sich selbst antreibenden System verhärtet hat. Das Verlangen, alles in Bewegung zu versetzen, das materielle, das soziale und das geistige Universum, ist ein Grundmotiv der Moderne; es beherrscht uns in nahezu allen Lebensäußerungen.

"Rasender Stillstand"

Die Moderne lässt sich deshalb geradezu durch das Gefühl der knappen, davoneilenden Zeit definieren. Seit Shakespeare Hamlet bemerken lässt, die Zeit sei aus den Fugen geraten, haben kulturelle Beobachter der Moderne immer wieder die davonlaufende Zeit und die Eile beklagt. Goethe beispielsweise spricht vom "veloziferischen" Charakter unserer Zeit, die nichts wachsen und reifen lasse; er erblickt in ihr also Temporeiches (velocitas) und Teuflisches zugleich.

Nietzsche befürchtete, unser Zeitalter werde aus Mangel an Ruhe in eine neue Barbarei auslaufen und Baudelaire bestimmt das Moderne einfach als das Flüchtige und Vergängliche. Soziologische Untersuchungen bestätigen, dass überall dort, wo Modernisierungsprozesse zu beobachten sind, Menschen sich unter Stress und Zeitdruck fühlen. Das ist also nichts Neues. Aber das Tempo des sozialen Wandels und der Innovationsfolge wird immer höher. Es wird also immer schwieriger, "auf dem Laufenden" zu bleiben.

Das Erstaunliche ist, dass Menschen berichten, sie hätten das Gefühl immer schneller rennen zu müssen, nur um ihren Platz zu halten, um "auf dem Laufenden" zu bleiben. Das hat etwas von "rasendem Stillstand" und hier scheint mir zumindest eine Verschiebung beobachtbar zu sein, die dann doch neu ist: Frühere Generationen hatten eher das Gefühl, sie bewegten sich rasch auf ein Ziel zu, das durch die Idee des Fortschritts bezeichnet war. Heute dagegen haben wir das Gefühl, wir bewegten uns immer rascher nirgendwo hin.

Wir sind hohen Veränderungsraten ausgesetzt, ohne noch Zielvorstellungen zu haben und ohne die Veränderungen kontrollieren zu können. Das macht die Geschwindigkeitserfahrung besonders frustrierend, weil wir uns eher als Opfer denn als Akteure erleben.

Von geistiger zur physischer Erschöpfung

Ferdric Jameson bemerkt, das Erstaunlichste an unserem Zeitalter sei es, dass wir uns eher das Ende der Welt in einer nuklearen oder klimatischen Katastrophe auszumalen vermögen als einen grundsätzlichen Systemwandel. Aber die heutige "Endzeitstimmung" wird vielleicht gar nicht so sehr durch die Angst vor einem großen Umschlag geprägt. Eher, dass es immer so weiter geht ist die Katastrophe. Darin zumindest stimmen sowohl Walter Benjamin als auch Douglas Coupland in "Generation X" überein.

Während sich im Fin de siècle am Ende des 19. Jahrhunderts eher eine Art geistig-kultureller Erschöpfung bemerkbar machte, haben wir es heute, wie mir scheint, vielerorts auch mit einer regelrechten physischen Erschöpfung zu tun. Die Polarisierung der Menschheit in eine Hälfte, die sich zu Tode schuftet und an den absoluten Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angekommen wähnt, während die andere Hälfte wegen Arbeitslosigkeit zwangsentschleunigt wird, gab es Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht. Aber beide Krisenstimmungen reagieren auf Beschleunigungserfahrungen.

Im Übrigen will ich aber gar nicht behaupten, dass ein Zusammenbruch irgendeiner Art unmittelbar bevorstünde: Menschen sind unglaublich anpassungsfähig. Wir werden schnellere Reaktionsweisen und größere Multitasking-Fähigkeiten entwickeln und dazu, davon bin ich ziemlich überzeugt, recht bald auch implantierte Computertechnologien und Biotechnologien aller Art einsetzen.

Stabile Umwelt für richtige Timing

Ein Gefühl für richtiges Timing kann man dabei allerdings nur entwickeln, wenn man in einer relativ stabilen Umwelt operiert. Wenn sich Situationen in ähnlicher Weise wiederholen oder schon langfristig abzeichnen, kann man ein Gespür dafür gewinnen, wann der richtige Zeitpunkt zum Handeln gekommen ist.

Aber in einer Welt, in der sich alles ständig verändert, in der also Hintergrundbedingungen grundsätzlich instabil werden, lässt sich "Timing" nicht mehr erlernen oder planen. Ganz abgesehen davon muss aber heute fast alles auch so schnell wie irgend möglich erledigt werden.

Im Englischen ist so fast jeder Brief mit einer "ASAP"-Floskel versehen: As soon as possible. Wenn ich aber sowieso mit allem, was ich tue, immer schon zu spät dran bin, hat es auch keinen Sinn mehr, mir über das richtige Timing Gedanken zu machen. Das größte Problem, das sich daraus ergibt, liegt darin, dass wir gezwungen sind, stets das Dringende oder das Dringendste zu tun, weshalb wir für alles, was wichtig ist, aber nicht mit einer Deadline versehen ist, keine Zeit mehr übrig haben. Dem wenden wir uns erst zu, wenn es ebenfalls dringend geworden ist, weil wir es zu lange übersehen haben - und dann kann es zu spät sein.

Übrigens bin ich der Ansicht, dass die seit 1990 gravierend erhöhten Veränderungsraten der sozialen und technologischen Welt dazu geführt haben, dass unser Begriff der "Dynamischen Entwicklung" seinen Sinn verliert: Dynamisch entwickeln kann man sich nur vor dem Hintergrund eines stabilen Umfelds. Eine Universität beispielsweise kann sich angesichts einer stabilen Hochschullandschaft dynamisch entwickeln.

Wenn aber jedes Forschungsinstitut, jede Fakultät, jede Universität, jedes Bundesland und darüber hinaus auch noch der Bund anfängt, die Lehr- und Forschungspläne gleichzeitig zu reformieren, haben wir es nicht mehr mit dynamischer, sondern nur noch mit chaotischer Entwicklung zu tun - das ist eine andere Manifestation des "rasenden Stillstandes".

Gegenstrategie "Entschleunigungspraktiken"

Ich selbst bin, so glaube ich, mein bestes Anschauungsbeispiel für Beschleunigungszwänge. Ich mache viel zu viele Dinge gleichzeitig, bin hochmobil und ständig unter Zeitdruck - paradoxerweise nicht zuletzt deshalb, weil das Interesse am Beschleunigungsthema und meinem Buch so hoch ist.

Aber auf der anderen Seite habe ich herausgefunden, dass Beharrlichkeit - also die Gegenstrategie zur stetigen Veränderung - im Leben absolut wichtig ist und einen entscheidenden Gegenpol zur Dynamik bildet. Menschen brauchen etwas, woran sie im Sturm der Zeit festhalten. Deshalb behalte ich stur meinen Wohnsitz im kleinen Schwarzwalddorf, für das ich mich vielfältig engagiere und ich halte an vielen kleinen "Entschleunigungspraktiken" wie Morgengymnastik, Abendmeditation ziemlich kompromisslos fest.

Außerdem leite ich ebenso stur jeden Sommer drei Wochen lang eine Schülerakademie für hochbegabte Jugendliche und begebe mich so gleichsam in eine Entschleunigungsoase. Denn in dieser Zeit breche ich mehr oder weniger jeden Kontakt zur Außenwelt ab. Und schließlich habe ich meinen Fernseher abgeschafft - wir Deutsche glotzen im Schnitt dreieinhalb Stunden pro Tag TV und behaupten doch, wir hätten keine Zeit für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. Ach ja, und E-Mails beantworte ich nur noch einmal in der Woche - deshalb mussten Sie jetzt auch so lange auf meine Antworten warten.

Service

Hartmut Rosa, "Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne", Suhrkamp Verlag

Suhrkamp - Hartmut Rosa