Die Gesellschaft der verschiedenen Geschwindigkeiten
Zeit, Zukunft und die Finanzkrise
Wie wirkt sich die Jagd nach Zeitvorsprüngen auf Gesellschaften aus? Und welche Folgen hat die "Mentalität des Endverbrauchers"? Diese Fragen thematisierte der deutsche Philosoph Rüdiger Safranski in seiner Rede bei der Verleihung des "Paul Watzlawick Ehrenring 2010". Ein Auszug.
8. April 2017, 21:58
Zwang zur Beschleunigung
Eine Beschleunigungsdynamik wurde in Gang gesetzt, weil es bei den eingesetzten Kapitalien auf schnelle Verwertung durch Erfolge am Markt ankam. Nur so kann man sich gegen die Konkurrenten behaupten und nur so lassen sich die Kredite bedienen. Es kommt auf Zeitvorsprünge an.
Kapitalistisches Wirtschaften beruht in mehrerer Hinsicht auf der Ausnutzung von Zeitvorsprüngen, die eine so große Bedeutung haben, dass Karl Marx die bis heute geltende Feststellung treffen konnte: Alle Ökonomie sei letztlich zur Zeitökonomie geworden. Man muss produktiver und das heißt schneller sein.
Die Steigerung der Produktivität schafft Wettbewerbsvorteile und so entsteht der ökonomische Zwang zur Beschleunigung bei den Produktionsmethoden und beim Wechsel der Produkte.
Bugwelle des Abfalls
Außerdem wird auch dafür gesorgt, dass sich die "Lebenszeit" der Produkte verkürzt. Zur Beschleunigungsökonomie gehört deshalb die Wegwerfökonomie. Die Beschleunigung bewirkt die riesige und immer weiter anwachsende Bugwelle des Abfalls. Man könnte sagen, dass die Produktion das, was an ihr Vergangenheit ist - eben den Abfall -, nicht nur hinter sich lässt sondern auch vor sich herschiebt. Unsere Vergangenheit - ihr Abfall - ist auch unsere Zukunft.
Dort in der Zukunft türmen sich nicht nur die Abfälle, sondern auch die Kreditrückzahlungstermine. Kredit ist ein weiterer Faktor der Beschleunigung.
Vom Spar- zum Pumpkapitalismus
Kredite haben selbstverständlich schon immer zum Geschäft gehört. Sie ermöglichen die Wirtschaftstätigkeit und den Konsum. Das Kreditsystem ist im eminenten Sinne ein Wirtschaften mit der Zukunft. Die zirkulierenden Kreditmittel basierten bisher auf einer Wertschöpfung, die zum jeweiligen Zeitpunkt bereits geschehen sein musste und deshalb für die Finanzierung weiterer Vorhaben zur Verfügung stand. Sie basierte also auf einer Wertschöpfung in der Vergangenheit.
Ralf Dahrendorf hat daran erinnert, dass die jüngere Vergangenheit noch beherrscht war von einem Sparkapitalismus. Mit dem - wie er das nennt - Pumpkapitalismus neueren Datums hat sich die Bühne dramatisch gedreht. Jetzt wird, was die Wertschöpfung betrifft, von Vergangenheit auf Zukunft umgestellt und im großen Stil Kredite ins System eingespeist, die nicht auf einer bereits getätigten Wertschöpfung in der Vergangenheit basieren, sondern auf einer Wertschöpfung, die erst in der Zukunft erwartet wird. Es wird auf die künftige Wertschöpfung gesetzt, die jetzt schon verbraucht und verspekuliert wird.
Phantome aus der Zukunft
Die zirkulierenden "Finanzprodukte", die das Finanzsystem in der jüngsten Krise fast zum Einsturz gebracht hätten, waren ja keine wirklichen Produkte, sie waren keine Wertschöpfung, sondern sie waren ein Spinnweb aus Erwartung und Spekulation, sie waren Phantome, Wiedergänger, aber nicht aus der Vergangenheit sondern aus der Zukunft.
Man verbrauchte die Zukunft, so wie man das ja auch bei der Staatsverschuldung und der Umweltzerstörung tut, die man den Kindern und Enkeln als Müll und offene Rechnungen hinterlässt, die sie dann zu entsorgen und zu bezahlen haben werden.
Die Haltung, verbrauche jetzt, bezahle später, erfasste alle Bürger und ermöglichte einen riesigen Kreditmarkt, wo die Akteure aus Geld, das ihnen nicht gehörte und das es vielleicht gar nicht gab, Geld machen konnten.
Der Zusammenbruch dieser Geschäfte ist im Kern nichts anderes als eine Wertberichtigungskrise. Wie bei einem Ballon, den man ansticht, entweicht die heiße Luft, und man bemerkt, es hat längst nicht so viele Werte gegeben, wie im System zirkulierten. In der Krise, so könnte man sagen, schlägt die Zukunft zurück und reißt die großen Löcher, in der die Finanzwirtschaft zu verschwinden droht.
Entsorgende Finanzwirtschaft
Man kann Kosten und Risiken räumlich externalisieren- zum Beispiel als Müll in die Dritte Welt -, man kann sie aber auch in die Zukunft auslagern. Und das ist in einem beängstigenden Ausmaß geschehen und geschieht noch.
Finanzwirtschaft belastet, ähnlich wie die Atomindustrie, die Allgemeinheit mit dem Problem der Entsorgung. Man richtet finanzielle Mülldeponie ein, sogenannte bad banks, und man kann sicher sein, dass uns die dort gelagerten kontaminierten Produkte ebenso wie der Atommüll noch große Schwierigkeiten bereiten werden.
Ich erwähne die Finanzkrise, weil sie uns in den Abgrund der modernen Bewirtschaftung von Zeit und Zukunft hat blicken lassen. Dass der Finanzmarkt bei alledem ein besonders temporeicher Geschäftszweig ist, versteht sich dabei von selbst.
Betriebsunfälle an Schnittstellen
Bei der Finanzkrise hat sich auch drastisch gezeigt, dass wir in einer Gesellschaft der verschiedenen Geschwindigkeiten leben. Der Zeittakt, in dem Geschäfte in der Finanzwirtschaft abgeschlossen werden, ist extrem schnell und erfordert eine hohe Reaktionsgeschwindigkeit bei immer kürzer werdenden Fristen.
Bei den gewöhnlichen Kreditnehmern und Sparer geht es demgegenüber geradezu gemächlich zu, die einen operieren global im Gedränge dichter Verflechtungen, die anderen in einem lokalen, übersichtlichen Feld, da geht es dann oft um Renten, Eigenheime und andere biographische Sicherheitsnetze.
An den Schnittstellen zwischen den Sphären kommt es zu Betriebsunfällen. Der eine wirtschaftet nach alter Gewohnheit, in Treu und Glauben, der Partner aber ist bei irgendwelchen rasenden Geschäften inzwischen aus dem Markt gefegt worden.
Mangelnde Synchronisation
Ein "Synchronisationsproblem" konstatieren die Ökonomen und Soziologen kühl. Die da unten haben noch nicht mitbekommen, was da oben läuft und vor allem: Wie schnell es gehen kann. Synchronisationsprobleme kennt man auch sonst aus dem Alltag: Der Zeitgewinn bei einer schnellen ICE-Verbindung geht im Nahverkehr wieder verloren.
Synchronisationsprobleme gibt es auch im Verhältnis von technologischer Entwicklung und Ausbildung. Kenntnisse und Qualifikationen veralten immer schneller. Lebenserfahrungen werden entwertet. Der flexible Mensch, heißt es, muss ständig umlernen. Das einzelne Leben verwandelt sich in eine Abfolge mehrerer Arbeitsbiographien mit Lücken und Leerzeiten von Arbeitslosigkeit.
Langsame Politik, schnelle Wirtschaft?
Auch die Politik hat oft das Nachsehen, weil sie nicht schnell genug ist. Es wird immer schwieriger einen stabilen Rahmen für die Wirtschaftstätigkeit und die sozialen Prozesse zu zimmern, trotz der Flut von Gesetzen, die der Entwicklung hinterher geschickt werden.
Die Entscheidungen in der Wirtschaft erfolgen schnell, die in der Politik, vor allem wenn sie demokratisch legitimiert sein sollen, langsam. Die Politik gerät unter Zeitdruck, und es gehört einiger Mut dazu, sich für gewisse Entscheidungen von großer Reichweite Zeit zu lassen.
Keine Zeit zu verlieren
Die allgemeine Beschleunigung, die mehr Zukunft verbraucht, hat die paradoxe Wirkung, dass sie den Zeithorizont verengt. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Probleme von heute, nicht aber auf die von morgen oder gar übermorgen. Die Steigerung der Produktions- und Verbrauchsgeschwindigkeit und die damit verbundene Auslagerung von Risiken in die Zukunft müsste eigentlich kompensiert werden durch eine Entschleunigung, Verlangsamung und eine Gegentendenz zur Nachhaltigkeit.
Aber dazu kommt es in den westlichen Industriestaaten wohl auch deshalb nicht, weil in Gesellschaften mit sinkender biologischer Reproduktionsrate sich die Mentalität von Endverbrauchern ausbreitet, und die haben bekanntlich keine Zeit zu verlieren, denn für sie zählt vor allem die Gegenwart.
In einem ziemlich banalen Sinne gilt inzwischen der ursprünglich ein wenig anders gemeinte der Ausspruch des Goethe'schen Faust:
Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, will ich in meinem inneren Selbst genießen.