Roman von Antonio Fian

Das Polykrates-Syndrom

Wikipedia weiß Bescheid: Polykrates war ein antiker griechischer Tyrann, der um 500 vor Christus die Insel Samos beherrschte. Auf seinen zahlreichen Feldzügen war der blutige Herrscher von maßlosem Glück verfolgt. Eines Tages jedoch riss die Serie und Polykrates fand ein Ende, das so grausam war, dass der Geschichtsschreiber Herodot die Details drüber bewusst verschwieg.

Friedrich Schiller hat dem Hochmut des Tyrannen eine seiner berühmtesten Balladen gewidmet. Seine Zeitgenossen indes fanden, dass die Behandlung des Stoffes im "Ring des Polykrates" etwas zu trocken geraten sei, da Schiller hier die ethische Wirkung der Idee zu sehr in den Vordergrund gestellt hat. Auf Antonio Fians nun vorgelegte Prosa-Umsetzung des Stoffes trifft dies nicht zu. Polykrates tritt in dem geradezu Splatter-haften Roman als eine Art moderne Zivilisationskrankheit auf. Das "Polykrates-Syndrom" nennt Fian folgerichtig sein Buch und meint damit in etwa, dass die forcierte Suche nach Glück oft genau ihr Gegenteil, nämlich eine forcierte Produktion von Unglück hervorruft.

Unscheinbarer Wicht trifft Superfrau

Träger des Syndroms und Hauptheld von Fians Buch ist eine anfänglich recht unscheinbare Figur, die bis dato so gar kein Glück hatte. Das Lebenskonzept des Mannes, der sich im mittleren Alter befindet, ist das einer allgemeinen Vermeidung: Arthur, so sein Name, hat eine Ausbildung als Lehrer, will aber als Lehrer partout nicht in die Schule gehen. Lehrerinnen aber umgeben den Mann: Da ist Arthurs herrschsüchtige Mutter, die jetzt im Pflegeheim lebt, und ihren Schülern einst eine begnadete Paukerin war. Und da ist Arthurs Ehefrau Rita, die in einem Gymnasium unterrichtet und meint, dass sie noch ungefähr vier Jahre bis zum Direktorinnen-Posten hat.

Arthur sieht in dieser Art des Bildungswesens für sich keinen Platz. Dem Hohn und Spott seiner Frauen ausgesetzt, verdingt er sich als kleiner Angestellter in einem Copy-Shop, gibt nebenbei Nachhilfestunden und schickt Gags an alle Talkshows des deutschsprachigen Raums. Keiner der Texte jedoch schafft es jemals in ein Programm. Eines Tages nun betritt eine faszinierende Frau den Kopierladen. Mit ihrem grünen Lackledermantel hat sie einen Schwung, den Arthur bisher an sich selbst vollkommen vermisst hat. Die Dinge aber ändern sich und wie durch ein Wunder kommt der kleine Angestellte tatsächlich an sie heran.

Das Unglück nimmt seinen Lauf

Erstes Opfer seines neuen Glück ist der Ex-Lebensgefährte der neuen Liebschaft. Im Text wird der Mann, der wohl auch ein solches ist, nur "Arschloch" genannt. Wenig später liegt er tot in der Wohnung und wird von Arthur in Wild-West-Manier entsorgt. Von einem Moment auf den anderen, so scheint es, hat in seinem Leben Quentin Tarantino die Regie übernommen.

Eine Art Double-Bind des Glücks bringt die Dreiersituation hervor, in der Arthur sich fortan befindet. Die Mutter stirbt im Pflegeheim, ohne dass ihr Sohn sie noch einmal besucht. Knapp vor ihrem Ende bringt die alte Dame am Telefon dunkle Gerüchte über seltsame Todesfälle im Heim auf, Diebstähle und Erbschleichereien sollen sich dort ereignen. Arthur indes kann sich darum nicht kümmern, mit Rita und seiner neuen Prinzessin hat er genug zu tun. So etabliert sich ein Spiel von Heimlichkeit und Aufdeckung, bis eines Tages eine weitere Tote in einer Wohnung liegt. Es könnte auch umgekehrt sein, bei Fian aber geht es so herum, dass die Geliebte von der Ehefrau erschlagen wurde.

Auch in diesem Fall übernimmt Arthur die Beseitigung der Leiche, wobei die Szene aber diesmal noch weitaus brutaler und absurder ist. In der Badewanne der ehelichen Wohnung zerstückelt er über Stunden hinweg den Körper seiner Geliebten, mit der er knapp zuvor noch tollen Sex hatte. Schwitzend und mit Rum abgefüllt packt er die Einzelteile der Frau in Müllsäcke und wirft sie später in den Container unmittelbar vor dem Haus.

Das Glück ist ein Vogerl

Nebenan im Wohnzimmer, wo der Christbaum steht, denn es ist Weihnachten, läuft während der ins Endlose gedehnten Tranchieraktion das Weihnachtsoratorium in einer Interpretation von Nikolaus Harnoncourt. Mit diesem Arrangement toppt Fian mühelos die berühmte Szene aus Bret Easton Ellis' "American Psycho". Über dem Austrian Psycho aber, das Fian entwirft, schwebt das Polykrates-Syndrom. Auf gut wienerisch könnte man es in den einfachen Satz packen: "Das Glück ist ein Vogerl." Arthur aber vertraut darauf, dass dieses Vogerl jetzt so schnell nicht mehr wegfliegt und er selbst auch in diesem Fall ungeschoren davonkommt.

Den Optimismus seiner Hauptfigur, der eine Art lebensfroher Hirnlosigkeit zum erfolgreichen Lebensprogramm macht, kontrastiert Fian mit dem Pessimismus und der Doppelbödigkeit seiner Umgebung. Dass Arthur in Wien lebt und Fian dieses Wien wie seine Westentasche kennt, gibt dem Roman einen Atem, der mühelos über die 240 Seiten des Buches trägt.

Auch auf die Setzung von Pointen, wie man sie aus Fians Mikrodramen kennt, braucht der Autor in seinem Buch nicht zu verzichten. Ganz im Gegenteil scheint die ausgedehnte Prosafläche, auf der es dem Leser nicht fad wird, ein gutes Substrat für intelligenten Witz. Neben einigen gekonnt gesetzten Tiefschlägen in die Bereiche des wirklich schlechten Geschmacks erfährt man aus Fians Buch auf diese Weise und ganz nebenbei eine ganze Menge über das Land, in dem wir leben, beispielsweise auch, dass hierzulande in jeder Sache stets auch sein Gegenteil steckt.

Reverenz an Tante Jolesch

Zum endgültigen Beweis dafür nimmt Fian, dass der Karl-Marx-Hof ausgerechnet in einem Stadtteil liegt, der "Heiligenstadt" heißt und dass man, wenn man zum Wiener Funkhaus will, an einer U-Bahnstation namens "Taubstummengasse" aussteigen muss. Dass das Österreichische Fernsehen auf dem Küniglberg daheim ist und nicht etwa in der Wiener Blindengasse, erscheint in diesem Zusammenhang fast noch als Glück.

Genau davor aber, was fast noch ein Glück ist, soll einen Gott behüten. Nicht Polykrates, sondern die Tante Jolesch hat dieses zeitlose Gesetz heimischen Glücks dereinst aufgestellt. In der schnoddrigen Art, in der Fian seine Hauptfigur förmlich ins Glück hineinjagt, erweist er auch dieser fernen Tante seine Reverenz. Dass das Lustige und das Brutale in diesem Land ohne Weiteres zusammengehen, wissen wir, Fian aber findet dafür in seinem Roman eine moderne und zeitgenössische Verpackung. Bei der Leserschaft ist dem Buch - einem Wien-Roman par excellence - von da an eigentlich nur noch eines zu wünschen: alles Glück dieser Erde, wenn nicht gar: alles Glück dieser Stadt.

Service

Antonio Fian, "Das Polykrates-Syndrom", Droschl Verlag