Gewalt in Mexiko und die Kunst

Die treibenden Kräfte in der aktuellen Protestbewegung Mexikos um die 43 Verschwundenen von Ayotzinapa sind vor allem Studenten und Künstler. Judith Hoffmann hat sich unter Kunst- und Kulturschaffenden umgehört.

Die Ziffern 4 und 3 auf roten Händen

EPA/Jorge Nunez

Kulturjournal, 29.12.2014

Ayotzinapa - Die offizielle Version

In der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 nehmen in der Stadt Iguala im mexikanischen Bundesstaat Guerrero korrupte lokale Polizisten eine Gruppe von Lehramtsstudenten fest und übergeben sie an eine verbündete Drogenbande. Drei Studenten sterben, 43 verschwinden in dieser Nacht. Die Regierung will von der Tat nichts gewusst haben, verspricht aber möglichst rasche Aufklärung. So lautet die bislang letztgültige offizielle Version.

Anhaltende Empörung

Doch eine wachsende Zahl empörter Bürgerinnen und Bürger will die dürftigen Erklärungen der Regierung nicht länger hinnehmen. "Justicia", Gerechtigkeit für Ayotzinapa fordern sie. Das heißt: Einen funktionierenden Rechtsstaat, die rasche Auffindung der 43 Verschwundenen und die vollständige Aufklärung der Tat. Und dass die Regierung Verantwortung übernimmt für dieses und viele andere Verbrechen in den letzten Jahren. Sie habe das Gefühl, es ist endlich der Punkt erreicht, an dem die Menschen sagen "es reicht!", sagt die Kultur- und Sozialanthropologin Evelyne Puchegger-Ebner, die vorrangig zu den Themen Gewalt, Feminismus und Ethnomedizin forscht und regelmäßig nach Mexiko reist. Denn Ayotzinapa, so heißt es einstimmig, ist nur die Spitze des Eisbergs.

Kunst als Motor des Protests

Am vergangenen Freitag, genau drei Monate nach der Tat, gingen wieder Tausende Menschen auf die Straße, darunter auch zahlreiche Künstlerinnen und Künstler. Die Kunst als wirkungsvolles Ausdrucksmittel schaffe neue Kanäle, um Wut und Empörung kundzutun, sagt der Anthropologe, Psychologe und bildende Künstler Gerardo Montes de Oca, der derzeit in Wien lebt und ein Doktoratsstudium an der Akademie der Bildenden Künste absolviert: "Kunst hat die Möglichkeit, mit Symbolen und kulturellen Codes zu arbeiten, und die Freiheit, neue Strategien und Fragestellungen aufzuwerfen. Aber es darf nicht bei der Kunst bleiben. Ohne ständigen Austausch mit der Gemeinschaft bleibt ihre Wirkung stark beschränkt. Aber man sieht ja, die Leute verbünden sich und es entsteht gerade etwas sehr Lebendiges."

Aktionismus statt Hochkultur

Anfang Dezember auf der internationalen Buchmesse von Guadalajara, der größten im spanischsprachigen Lateinamerika. Mitten im Getümmel lässt sich eine Gruppe von Menschen auf den Boden fallen. Manche haben den Mund zugeklebt. "Narco Estado" steht auf den Heftpflastern, eine Wortkreation, mit der die enge Verstrickung zwischen Politik und Drogenmafia bezeichnet wird. "Sie wollten uns begraben", schreit einer, "aber sie wussten nicht, dass wir Samen sind", antworten die anderen. Und: "Lebendig haben sie sie mitgenommen, lebendig wollen wir sie wieder haben!" Sie zählen laut bis 43, halten die Fotos der 43 Verschwundenen über ihren Köpfen. Am Ende gibt es tosenden Applaus, die Menge zerstreut sich wieder.

Es geht dabei nicht um Hochkultur, sondern um eine spontane, möglichst niederschwellige und für viele zugängliche Form der Protestkunst, die gesellschaftliche Missstände wie Gewalt, Drogenkartelle und korrupte Politiker thematisiert, sagt die Künstlerin und Aktivistin Mariel Rodríguez: "Kunst, Aktivismus. Die Grenzen verschwimmen oft und es entstehen Projekte, die ganz neue Räume öffnen und die Leute dazu bewegen, auf die Straße zu gehen und auf neue Weise zu interagieren."

Als Beispiel nennt Mariel Rodríguez ein Stück der Bildenden Künstlerin Lorena Wolffer: Auf einem öffentlichen Platz lädt sie Frauen ein, je einen Gegenstand mitzubringen, mit dem sie schon einmal geschlagen wurden. Aus den mitgebrachten Gürteln, Stöcken und anderen Objekten entsteht mitten auf dem Platz eine Skulptur. Es ist eine Anklage, aber zugleich ein Akt der Bürgerbeteiligung und der Reflexion.

Nicht nur Unterstützung

Doch nicht alle Künstlerinnen und Künstler erheben ihre Stimme. Bei den Latino Grammys, die am 21. November verliehen wurden, äußerte sich mit Ausnahme der Band "Calle 13" aus Puerto Rico niemand zu den Vorfällen von Ayotzinapa. Man sei vom Veranstalter instruiert worden, nicht über das Thema zu sprechen, so einer der befragten mexikanischen Künstler.

In einem ausführlichen Interview mit dem spanischen CNN erwähnte der Regisseur Guillermo del Toro Mitte Oktober die Vorfälle mit keiner Silbe. Und der Gael García Bernal zeigte sich bei der Premiere seines aktuellen Films "Rosewater" in New York wenig begeistert von Reporterfragen Ayotzinapa. Die Situation mache ihn wütend, verärgert und auch sprachlos, aber sie könne nicht allein in einem Interview abgehandelt werden, so der Schauspieler, bevor er fragt, ob man nun auch über seinen Film sprechen könne.

Schrifstellerin Elena Poniatowska als Sprachrohr

Eine unüberhörbare Stimme der aktuellen Protestbewegung ist hingegen die namhafte mexikanische Schriftstellerin Elena Poniatowska. Auf dem Zócalo, dem Hauptplatz von Mexiko Stadt, sprach sie vor tausenden Demonstranten, in einem Interview am Rande der Buchmesse von Guadalajara bezeichnet sie das Verbrechen als eine Schande und als Ergebnis von Korruption, Rassismus und der großen Kluft zwischen den Gesellschaftsschichten. "Vivos se los llevaron", "lebendig haben sie sie mitgenommen, lebendig wollen wir sie wiederhaben. Der Kampf geht weiter, bis wir diese Burschen gefunden haben", sagt sie. Während einer Veranstaltung auf der Buchmesse holt Poniatowska fünf Studenten aus Ayotzinapa zu sich aufs Podium.

Ayotzinapa als Symbol für Missstände

Die verschwundenen Studenten von Ayotzinapa sind zum Symbol geworden für einen Staat, der Bildung und Zivilcourage zum Gefahrengut degradiert. Hinter der Tat steht die systematische Auslöschung jener Institutionen, die zur ländlichen Volksbildung beitragen, sagt Mariel Rodríguez, die derzeit ein Doktoratsstudium an der Akademie der Bildenden Künste in Wien absolviert: "Man hält die Leute in Unbildung, damit kein kritisches Denken aufkommt und die Regierung ihre neoliberale Politik der Ausbeutung von Menschen und Natur in Ruhe fortführen kann. Eigentlich ist es komplett pervers, wenn man denkt, dass da ein eigenes Tötungskommando installiert wurde, um Kritiker und Oppositionelle zu ermorden."

Die "Escuela Normal Rural de Ayotzinapa" ist eine Lehrerbildungsanstalt im Bundesstaat Guerrero, rund hundert Kilometer von der Hafenstadt Acapulco entfernt. Unter armseligen Bedingungen erhalten die Lehramtsstudenten dort Ausbildung und Unterkunft und betreiben gemeinsam eine kleine Landwirtschaft. Die Schule entstand - wie viele andere ihrer Art - als Folge der zapatistischen Revolution und ist bekannt für ihre linke, regierungskritische Haltung, sagt der Filmemacher Michael Vetter. Er lebt seit 1968 in Mexiko. Sein jüngster Dokumentarfilm "Justiz am Pranger" entstand in den Bergen von Guerrero, wo indigene Gemeinden ihr eigenes, unabhängiges Justizwesen aufgebaut haben, als Schutz vor Drogen- und Verbrecherbanden und als Gegenentwurf zur offiziellen Justiz, die dem mexikanischen Volk keine Rechtssicherheit garantieren kann, wie er erzählt.

Kein Ende der Gewalt

Auch nach Ayotzinapa nimmt die Gewalt nicht ab in Mexiko, regelmäßig werden Vermisste und Tote beklagt. Vor wenigen Tagen wurde ein katholischer Priester entführt und durch einen Kopfschuss getötet. Man fand den als Kritiker von Korruption und Verbrechen bekannten Padre Goyo in einem Straßengraben. Im Fall von Ayotzinapa kommt unterdessen immer mehr Beweismaterial für die Mitwirkung der nationalen Polizei zutage. Als eines der schrecklichsten Verbrechen der jüngsten Vergangenheit bezeichnete die Uno in Mexiko das Verbrechen. Klare Worte, die man in offiziellen Diskurs vergeblich sucht.

Florierende Schattenwirtschaft

Florierend aber ist in Mexiko, einem Land, das - wie die Regierung gerne betont - unter den Wirtschaftsnationen weltweit Rang 14 belegt, lediglich die Schattenwirtschaft, die vom international agierenden Netz der Drogen- und Erpresserkartelle dirigiert wird. Geschätzter jährlicher Gewinn: 40 Milliarden US-Dollar. Der Drogenhandel ist dabei längst nicht mehr das lukrativste Geschäft. An seiner Stelle verhelfen Waffen und Erdöl, Schlepperei und Piraterie den weltweiten Profiteuren zu enormen Gewinnen. Die Waffen, mit denen die Studenten von Ayotzinapa getötet wurden, stammen zum Beispiel aus Deutschland, sagt der Filmemacher Michael Vetter und Gerardo Montes de Oca ergänzt: "Aus den USA kommen ca. 2500 Waffen pro Tag! Pro Tag! Wie viel Geld ist das wohl? Das sind Waffen, mit denen man sogar Helikopter abschießen kann, also keine leichten Geschütze. Und sie wollen ihr Waffenkontrollgesetz natürlich nicht ändern. Das liegt im neokolonialen Interesse der USA und anderer Länder wie Spanien, die gute Geschäfte mit der PRI-Regierung machen."

Narco-Kultur

"Narco" - ursprünglich die Bezeichnung für den Drogendealer, ist längst zu einer allgegenwärtigen Vorsilbe geworden, praktisch in allen Bereichen der Sprach- und Lebenswelt einsetzbar und Sinnbild für eine ganze Narco-Kultur, sagt Mariel Rodríguez: "Sie haben ihre Soundtracks, die sogenannten Narcocorridos. Sie haben ihre eigene Filmindustrie. Sie haben sogar eine eigene Sprache kreiert, um die Drogensituation adäquat zu beschreiben. Es gibt Narco-Architektur, Narco-Mode. Also in allen Sphären des sozialen Lebens gibts ein passendes Gegenstück der Drogenmafia."

Die Filmindustrie, vor allem auch in den benachbarten USA, findet großen Gefallen an der Thematik. Kartellbosse, Schmuggler, Dealer und Verbrecher sorgen für Kassenschlager, etwa 2012 in Oliver Stones Film "Savages" oder 2010 in der Satire "Infierno", auf Deutsch "Die Hölle", sagt der Schauspieler Kaveh Parmas. Dass in den Streifen auch Kritik an der Drogenmafia geübt wird, ist kein Indiz für Unabhängigkeit, so Parmas: "Es könnte sogar sein, dass sie von der Drogenmafia mitfinanziert wurden."

Der Schauspieler lebt seit 2001 immer wieder für mehrere Jahre in Mexiko und ist dort unter anderem in der Compania Nacional engagiert, der einzigen großen Schauspielkompanie des Landes, wie er sagt. Denn Kunst und Bildung sind Randerscheinungen in einem Land, dessen Kulturleben von zwei großen Fernsehsendern gelenkt wird.

Medienmonopol

Regelmäßig werden korrupte Verbindungen zwischen Grupo Televisa, dem weltweit größte spanischsprachige Medienunternehmen, und der Regierungspartei aufgedeckt. Dass kritische Berichterstattung, zumal im Fall Ayotzinapa, hier nicht zu erwarten ist, liegt auf der Hand.

Doch eine neue Generation wütender Bürgerinnen und Bürger hat längst andere Kanäle des Informationsaustauschs gefunden: Blogs und Websites dienen als Plattformen kreativer und kritischer Auseinandersetzungen. Gedichte, Songs, Kurzgeschichten und Reportagen finden sich dort. Die Frage, ob es denn keine Zensur gebe, der solche Texte und Videos zum Opfer fallen könnten, erregt bei den Befragten spontane Heiterkeit. Doch, sagt Gerardo Montes de Oca, die Zensur ist extrem. Er erzählt von zahlreichen verschwundenen und getöteten Journalisten und Aktivisten, und von Morddrohungen via Twitter, die nicht selten in die Tat umgesetzt werden.

Woher die Drohungen kommen, ob von staatlicher Seite oder von den Drogenkartellen, sei oft nicht so leicht zu eruieren. Eine bizarre Konstruktion, die kaum zu durchblicken ist, und trotzdem: "Mexiko ist keine Diktatur", betont Evelyne Puchegger-Ebner. Es seien alle notwendigen demokratischen Institutionen vorhanden, hinter den Kulissen allerdings gebe es kaum durchschaubare Verflechtungen zwischen Macht und Kriminalität.

Ayotzinapa - Die inoffizielle Version

Eine grausame Folge derartiger Verflechtungen ist schließlich auch das Verbrechen von Ayotzinapa, wie die beiden Investigativ-Journalisten Anabel Hernández und Steve Fisher in Zusammenarbeit mit der Universität Berkeley herausfanden: Die Festnahme und Verschleppung der Studenten war keine Tat korrupter lokaler Gruppierungen, sondern ein gezieltes und geplantes Verbrechen, verübt von der Bundespolizei, unter Mithilfe des Militärs, in Absprache mit der Bundesregierung. Zurückgelassen wurden teils bis zur Unkenntlichkeit verkohlte und verstümmelte Leichenteile, die bis heute nicht vollständig identifiziert werden konnten.

Angesichts derartiger Methoden scheint der Mut der lautstarken Demonstranten umso erstaunlicher. Es ist eine Demokratiebewegung, die sich über Facebook, oder Twitter austauscht und aus allen Teilen der Gesellschaft unvermutet neue Anhänger findet. Selbst regierungskonforme Medien, Abgeordnete und Institutionen distanzieren sich von der herrschenden Politik. Die empörte Menge wächst und macht keine Anstalten, ihre Protestschreie bald zu beenden.

Übersicht