Mircea Cartarescu im Interview

Im Rahmen der Salzburger Festspiele vergibt die Republik alljährlich den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Der mit 25.000 Euro dotierte Preis ging heuer an den rumänischen Schriftsteller Mircea Cartarescu. Ö1 hat mit dem Autor über die "Orbitor"-Trilogie, die Lage in Rumänien und das Schreiben von "unlesbaren" Büchern gesprochen.

Kulturjournal, 27.7.2015

Mircea Cartarescu: "Ich schreibe keine Bücher, um sie zu veröffentlichen, sondern um in ihnen zu leben."

Bis zum Ende des Kommunismus schrieb Cartarescu ausschließlich lyrische Texte; mittlerweile sind auch zahlreiche Kurzgeschichten und Romane von ihm auf Deutsch erschienen. Sein bisher größtes Werk, die "Orbitor"-Trilogie, führt in das Seelenleben des in Bukarest lebenden jungen Mircea und ist zugleich eine Abrechnung mit der Ceausescu-Diktatur. Für dieses Werk, das zur Gänze auch auf Deutsch vorliegt, hat Cartarescu heuer bereits den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhalten.

Sie haben vierzehn Jahre lang an den "Orbitor"-Trilogie geschrieben. Wie blicken Sie zurück auf diese Zeit und die Welt, die Sie erschaffen haben?
Mircea Cartarescu: Ich schreibe keine Bücher, um sie zu veröffentlichen, sondern um in ihnen zu leben. Ein Buch zu schreiben, ist für mich wie eine Ehe zu führen. Ich finde mich dann in einem ganz bestimmten Klima wieder. Daher schreibe ich gerne lange Texte, denn wenn ich eine Welt erschaffe, will ich gerne länger darin bleiben. Ich lebte also vierzehn Jahre lang in der Welt von "Orbitor", und es war das Abenteuer meines Lebens. Ich habe diese Trilogie ja vor fast zehn Jahren beendet, und ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, kein Teil mehr davon zu sein. Natürlich habe ich währenddessen auch andere Bücher geschrieben - leichtere Dinge wie Kinderbücher oder Reiseberichte. Das hat es mir erst ermöglicht, diese Riesenbürde der "Orbitor"-Trilogie auszuhalten.

Es ist ja äußerst schwierig, über die Handlung der "Orbitor"-Trilogie zu sprechen. Es geht zum einen um Rumänien, die Revolution 1989, zum anderen scheinen Sie das Schicksal der Menschheit an sich in Worte fassen zu wollen. Alle drei Romane - "Die Wissenden", "Der Körper" und "Die Flügel" - sind voll von Träumen, Visionen und mythologischen Geschichten. War das der einzige Weg, über die Diktatur in Rumänien zu schreiben und über das, was sie aus den Menschen gemacht hat?
M. C.: Sie beziehen sich vor allem auf den dritten Band, "Die Flügel", der tatsächlich in die Zeitgeschichte eintaucht. Die ersten beiden Teile haben weniger diese historische, sondern eher eine psychologische oder psychoanalytische Dimension. Ich unterscheide nicht zwischen innerem und äußerem Leben. Erinnerungen, Träume, Vorstellungen gehören für mich zum realen Leben. Für mich ist es also einfach, zwischen einer realistischen und einer fantastischen Geschichte hin- und herzuwechseln. Sie können sich die "Orbitor"-Trilogie, die ja über 1600 Seiten dick ist, als ein Fresko vorstellen, aber ein dreidimensionales. Eines, das nicht nur alle sichtbaren Farben enthält, sondern auch Infrarot und Ultraviolett.

Wenn wir nun über die historische Dimension der Trilogie sprechen: Wie blicken Sie auf die Diktatur und den politischen Systemwechsel in Rumänien zurück?
M. C.: Nun, ich wurde 1956 in ein stalinistisches Regime hineingeboren, das sich über ganz Osteuropa ausgebreitet hatte. Es war ein schrecklicher Abschnitt der Geschichte. Wir waren eine einfache Arbeiterfamilie. Als Kind und Jugendlicher bekam ich den ganzen Horror des Totalitarismus zu spüren. Und Sie haben recht, wenn Sie annehmen, dass Teile der "Orbitor"-Trilogie eine Art Rache an denen ist, die meine Jugend gestohlen haben. Bis heute habe ich den größeren Teil meines Lebens in diesem Gefängnis verbracht. Daher ist mein Stil im dritten Roman auch satirischer und polemischer, etwa wie in den Satiren von Jonathan Swift. Ich versuchte, eine Radiographie der kommunistischen Ära vorzunehmen.

Wie ist es nach der Revolution weitergegangen?
M. C.: In den Tagen der Revolution herrschte bei uns eine große Freude, wie beim Fall der Berliner Mauer. Der 22. Dezember 1989 war für mich der vielleicht glücklichste Tag meines Lebens. Aber sehr bald setzte dann die Enttäuschung ein, als wir dahinterkamen, dass wir einer Farce aufgesessen waren. Ein starker Kern von ehemaligen Kommunisten und Securitate-Leuten haben alles inszeniert. Es war eine postmoderne Revolution für die Fernsehkameras und insgesamt eine große Lüge. Zugleich gab es aber eine starke Volksbewegung, denn jeder wollte diesen Kommunismus, der eher einem Faschismus glich, weg haben. Doch nach der Revolution ist die Macht bei denselben geblieben. Und bis heute liegt das Schicksal meines Landes in den Händen einer Mafia, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt.

Letztes Jahr hat Klaus Johannis die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Johannis gehört zur alten sächsischen Bevölkerung in Rumänien. In einem Artikel der "Zeit" haben Sie seinen Wahlsieg auf seine deutsche Abstammung zurückgeführt, da die deutsche Minderheit in Rumänien immer schon als arbeitsam, ehrlich und verlässlich gegolten habe, und überhaupt herrsche ein großer Respekt vor Deutschland als Motor Europas.
M. C.: Deutschland und die Deutschen sind ein Mythos in Rumänien. Die Menschen in diesem Land sehen sich ja mehr einer südländischen Mentalität zugehörig und betrachten sich als eher ineffizient und unorganisiert. Also schauen sie zu Menschen auf, die den gegenteiligen Ruf haben, die einen guten Job machen. Viele haben ja Angehörige der deutschen Minderheit als Nachbarn gehabt und genau diese positiven Eigenschaften an ihnen erlebt. Als nun ein Deutschstämmiger die politische Arena betrat, haben viele für ihn gestimmt. Aber noch entscheidender für den überraschenden Wahlerfolg von Johannis war der Hass der Leute auf den Gegenkandidaten, Premierminister Victor Ponta. Ihn verabscheut die Bevölkerung und sieht ihn als Lügner.

Vor dem Hintergrund dieses Mythos der Deutschen in Rumänien: Wie sieht man die Rolle Deutschlands im aktuellen Schuldenstreit mit Griechenland, in dem die unnachgiebige Haltung Deutschlands massiv kritisiert wird?
M. C.: In Rumänien sieht man die Lage völlig anders. Man gibt der griechischen Bevölkerung die Schuld an der Misere. Es gibt natürlich auch die EU- und Deutschland-Kritiker, aber sie werden nicht gehört. Die Deutschen tragen im rumänischen Diskurs keine Schuld am griechischen Drama. Das mag stimmen oder nicht, aber so läuft bei uns die Diskussion.

Die rumänischen Behörden führen gerade einen großen Kampf gegen Korruption. Auch gegen Premier Victor Ponta wird ermittelt. Will man mit dieser - auch öffentlichkeitswirksamen - Aktion Reformbereitschaft demonstrieren, um die Position in der Europäischen Union zu stärken und sich von Russland abzugrenzen?
M. C.: Ich denke, Rumänien hat sich innerhalb Europas schon jetzt etabliert, zum einen aufgrund des Wahlsiegs von Klaus Johannis, aber auch wegen seiner Position in diesem neuen Kalten Krieg, der zwischen dem Westen und Russland ausgebrochen zu sein scheint. Denn Rumänien ist ja jetzt Teil der NATO-Strategie in Osteuropa. Außerdem läuft trotz aller Korruption die Wirtschaft gut. Alles in allem sind wir weit entfernt von der Situation in Griechenland.

Die "Orbitor"-Trilogie liegt bereits in mehreren Sprachen vor, und Sie sind schon mehrfach für dieses Werk ausgezeichnet worden. Sie selbst haben die Trilogie als unlesbar bezeichnet. Hoffen Sie, dass Auszeichnungen wie der Staatspreis für Europäische Literatur viele dazu bewegen, es trotzdem zu versuchen?
M. C.: Ich denke, jedes interessante Buch hat etwas Unlesbares an sich. Ich habe ein großes Misstrauen gegen Bücher, die jeder versteht. Nicht, weil ich so elitär denke, sondern weil ich der Überzeugung bin, dass die Wahrheit nur schwer zu fassen ist. Das bedarf einer sehr komplexen Methode, die nicht darin besteht, von jedem verstanden und gemocht zu werden. Ich habe mich immer mehr als Lyriker denn als Prosa-Autor gesehen. Denn ich glaube, dass man die Welt an sich mehr poetisch als rational auffassen kann. Man kann sie eher durch Symbole und Metaphern verstehen. Poesie ist für mich Wissen, so wie Philosophie, Theologie oder die Naturwissenschaften. Ich habe ja als Lyriker begonnen, und obwohl ich jetzt auch Romane, Essays und Kurzgeschichten schreibe, habe ich die Poesie nicht abgelegt. Ich denke, alles, was ich jemals geschrieben habe, ist Poesie.

Woran arbeiten Sie im Moment?
M. C.: Ich schreibe gerade an meinem vielleicht ambitioniertesten Buch. Es ist kein wirklicher Roman, sondern eher ein Buch der Weisheiten, oder auch eine Art Vermächtnis. Ich werde bald sechzig und habe das Bedürfnis verspürt, den Menschen zu sagen, welche Erkenntnisse ich aus meinem Leben gezogen habe. Was ist meine Antwort auf die große Frage des Lebens? Dieses Buch, für das ich noch keinen Titel festgelegt habe, wird mein philosophischstes. Es geht um Leben, Wahnsinn, Tod, Auferstehung und Gott, wenn Sie so wollen. Das wird sicher mein schwierigstes Buch, aber es wird auch nicht an Humor fehlen. Es wird über 800 Seiten stark sein, und im November soll es erscheinen. Ich habe große Angst davor, denn ich weiß nicht, wie die Menschen es annehmen und was sie damit tun werden.