Mircea Cartarescu: "Die Flügel"

Der 58-jährige rumänische Autor Mircea Cartarescu zählt zu den wichtigsten Stimmen der rumänischen Gegenwartsliteratur. Neben Gedichten und Kurzprosa wurde er vor allem durch seine umfangreiche Trilogie "Orbitor" bekannt, die eine literarische Abrechnung mit dem Ceausescu-Regime darstellt. Nach "Die Wissenden" und "Der Körper" ist diese Woche der dritte und letzte Band der Trilogie in deutscher Übersetzung erschienen. "Die Flügel" lautet der Titel.

Morgenjournal, 30.08.2014

Rumänien 1989. Ein letztes Mal bäumt sich das Ceausescu-Regime in seiner ganzen Brutalität auf. 40.000 Tote in Timisoara, Hunger und Kälte in Bukarest. Demonstranten werden verhaftet, gefoltert oder von Panzern überrollt, bis sich am Ende doch Armee und Miliz mit ihnen solidarisieren.

Protokoll einer gestohlenen Jugend

Mitten im Geschehen ist der 33-jährige Mircea Cartarescu, der sorgfältig Protokoll führt und daraus ein Pamphlet verfasst gegen jene Diktatur, die einer ganzen Generation die Jugend gestohlen hatte, wie er sagt. Noch heute verspüre er manchmal Wut und Groll gegenüber dem Regime. Dieser Groll und das Verlangen nach Rache seien auch der Motor für seine wortgewaltige Trilogie gewesen, so Cartarescu.

Im Rumänischen ist die Trilogie als Triptychon in Gestalt eines Schmetterlings aufgebaut: "Linker Flügel" - "Körper" - "Rechter Flügel". Protagonist des letzten Teiles ist Cartarescus Vater Costel, ein aufrichtiger Mann, glühender Marxist und Kommunist, der in seinen ideologischen Grundfesten tief erschüttert wird, als das Volk hungert, während Ceausescu in Marmorschlössern residiert; der zerknirscht sein Parteibuch verbrennt, als im Fernsehen das Ende der Diktatur verkündet wird.

Mircea Cartarescu: "Der Vater ist eine tragische Figur, die wirklich an die generösen Ideen der Kommunisten und die marxistisch-leninistische Doktrin glaubte. Nach und nach realisiert er aber, dass diese Ideen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Er wird immer unzufriedener und am Ende blickt er beschämt auf sein ganzes Leben zurück."

Beobachtung, Vision und Halluzination

Cartarescu macht es den Lesern auch diesmal nicht leicht, in seine überwältigende Erzählwelt hineinzufinden. Auf fast 700 Seiten entsteht ein dichtes, sprachgewandtes Familien- und Gesellschaftsporträt vor dem Hintergrund der rumänischen Revolution. Cartarescu wechselt Standpunkte und Erzählperspektiven, mischt klare, sprachlich einfache Beobachtungen mit surrealen, nebulösen Visionen. Seinen eigenen Schilderungen stellt er die Stimmen anderer Figuren gegenüber, die ebenfalls den Verlust von Freiheit und Würde durch das Regime zu beklagen haben.

Manuskript als heimlicher Hauptdarsteller

Dazwischen zeigt sich der Autor immer wieder selbst und macht seinen Schreibprozess sichtbar. Mitten im Geschehen sitzt Mircea mit seinem wachsenden Manuskript. Aus Tausenden handbeschriebene Seiten wächst gleichsam vor den Augen des Lesers ein assoziatives, poetisches Ganzes.

"Viele Kritiker sagen ja, mein Stil sei viel näher an der Poesie als an der Prosa", so Cartarescu. "Und es ist wahr", ergänzt er: "Ich improvisiere ständig und stütze mich auf Inspirationen. Die Visionen und sinnestäuschenden Landschaften in meinem Buch sind meinem steten Hang zur Poesie geschuldet. Ich betrachte mich selbst eher als Poeten denn als Prosa-Autor oder Essayisten."

Literarisches Kaleidoskop

Am Ende fügt sich alles zu einem kunstvollen literarischen Kaleidoskop zusammen. Es ist das umfangreiche Zeugnis einer zu Ende gehenden Ära, nicht aus der Sicht eines Historikers, sondern aus der Feder eines Poeten und Träumers, der seine Eindrücke, Halluzinationen und apokalyptischen Visionen in beeindruckender Weise mitzuteilen weiß.