Gedanken für den Tag

6. Oktober 2012, 06:56

In wenigen Tagen beenden Juden in den Synagogen die alljährliche Lesung der Tora und beginnen von neuem mit der Breschit, dem ersten Buch Moses, das von der Erschaffung der Welt in sechs Tagen erzählt. "Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde." Bis ins vorige Jahrhundert glaubten die meisten Menschen, das sei im wörtlichen Sinne wahr, heute wissen wir es besser. Und dennoch lesen so viele diesen Text mit großer Hingabe, Jahr für Jahr. Von einer Generation zur nächsten wird er weitergegeben. Warum hängen sie, warum hänge ich, immer noch dieser Tradition an, diesen Riten, diesem Glauben, wo wir doch sonst so stolz auf Vernunft und wissenschaftliche Erkenntnis sind? Die Antwort liegt, so glaube ich, in den Worten der Tora, in ihrer Beschreibung eines riesigen Universums, in dem wir als kleine Staubkörner für wenige Augenblicke existieren. Die Wissenschaft kann uns so vieles erklären - über Sterne und Galaxien, über Quarks und Higgs-Teilchen. Sie kann unsere DNA entziffern und unsere tiefsten Gefühle physiologisch analysieren. Aber eines kann sie nicht sagen: Wer bin ich in dieser Welt, warum gibt es mich? Selbst wenn man nicht fest an Gott glaubt, gibt die Verwurzelung in einer uralten Tradition, die fast die ganze Weltgeschichte umspannt, eine kleine Antwort auf diese große Frage. Sie sagt mir: Woher komme ich? Und vielleicht auch: Wohin gehen ich und meine Kinder? Die Religion verankert uns den Menschen auch im Raum. An diesem Schabbat wird die Tora in aller Welt gelesen, in Wien genauso wie in London, New York, Buenos Aires oder Jerusalem - derselbe Text in derselben Sprache. Religionen wie das Judentum bilden heute eine weltumspannende universale Kultur, die Menschen wie mir überall ein Zuhause gibt und fernab aller Modeströmungen erhalten bleibt - wie es in der Tora steht - von Generation zu Generation, bis in alle Ewigkeit.

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