Zwischenruf

von Gisela Ebmer (Wien)

Österreich ist frei

Alle Programme des ORF beschäftigen sich derzeit mit dem Schwerpunkt "Österreich ist frei". In zahlreichen Sendungen wird an das Ende des 2. Weltkriegs und die Gründung der 2. Republik vor 70 Jahren gedacht und an die Unterzeichnung des Staatsvertrags vor 60 Jahren.
Ja, Österreich gehörte nun nicht mehr zum Großdeutschen Reich. Österreich war nicht mehr unterteilt in vier Besatzungszonen. Österreich war endlich frei.

Freiheit - das ist auch ein sehr zentrales Motiv in der Bibel: Die Hebräer, möglicherweise ein Sammelbegriff für unterprivilegierte Schichten aus verschiedenen Gebieten des Nahen Ostens, haben sich, so das Buch Exodus, vor etwa 3000 Jahren endlich aus der Sklaverei in Ägypten befreit: Auch sie waren auf dem langen Weg in die Freiheit, der durch die Wüste geführt hat. Freiheit ist etwas Gefährliches für ein Volk, das nie gelernt hat in Freiheit zu leben. Das Volk Israel begann zu murren in der Wüste. Wo und wie geht es weiter? Wer oder was gibt uns Orientierung? Es fehlt Essen und Wasser, es fehlt Schutz vor der Hitze des Tages und vor der Kälte der Nacht. Sie raffen alles an sich, was sie durch Gottes Hilfe finden. Sie geraten in Panik, als die Führerfigur Mose abwesend ist.

In Freiheit zu leben kann bedrohlich sein. "Frei, das heißt allein, so wie der Wind, ohne ein Ziel, frei, das wollt ich sein, warum lag mir daran so viel?" So lautet ein Schlagertext aus den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts. Freiheit heißt demnach, an nichts und niemanden gebunden zu sein. Keine Verbindungen, Beziehungen zu haben, die mir Sicherheit und Orientierung geben.

Für Freiheit gibt es verschiedene Definitionen. Viele Menschen verstehen darunter: Wer frei ist, kann machen, was er oder sie will. Liberale Gruppierungen in Österreich und anderswo sehen dies auch als Motiv für ihre Politik: Die Freiheit des Einzelnen darf unter keinen Umständen eingeschränkt werden. Freier Waren- und Geldverkehr und die Deregulierung des Marktes, das sind die heutigen Schlagworte unseres neoliberalen Wirtschaftssystems. Jede Regel, jedes Gesetz, jede Steuer-Forderung, die Aufhebung des Bankgeheimnisses, all das schränkt Freiheit ein.

Aber ich frage mich: Wessen Freiheit?

Wenn jeder tun und lassen kann, was er will, dann gilt das Recht des Stärkeren. Ich verwende in meinem Unterricht oft ein Bild aus einem Religionsbuch, wo zwei Männchen in je einem Glaskasten dargestellt sind: Der eine groß, mächtig, in Imponiergehabe. Der andere klein und zitternd. Der Große, Starke ist nahe daran, den Glaskasten des Kleinen, Schwachen zu zerstören. Aber zwischen den beiden Glaskästen gibt es einen Balken mit dem Wort "Gebote". Gemeint sind hier die Zehn Gebote aus der Bibel.

Diese hat laut biblischem Bericht das Volk Israel damals auf seinem Weg durch die Wüste von Gott bekommen. Sie dienten zum Schutz der gerade gewonnenen Freiheit. Geschützt werden muss die Freiheit aller Menschen und nicht nur jene der Starken.
Wenn in Österreich manche Menschen ihr Vermögen in sogenannten Steueroasen anlegen, damit sie in unserem Land keinen Beitrag zum Gemeinwohl leisten müssen, dann könnte man vielleicht das Gebot "Du sollst nicht stehlen" bedenken. Oder wenn durch eine neoliberale Wirtschaftspolitik weltweit jedes Jahr 30 Millionen Menschen an Hunger sterben, während andere im Luxus leben, dann müsste das Gebot "Du sollst nicht töten" vielleicht konkretisiert und aktualisiert werden.

Österreich ist frei. Gottseidank! Wir haben viel geschafft seit damals. Aber vielleicht könnte der Programm-Schwerpunkt auch für die Politik ein Anlass sein, darüber nachzudenken, welche Regelungen wir in unserem Staat noch einführen müssen, dass Freiheit nicht nur ein Privileg einiger weniger ist, sondern für alle Menschen gilt.

Sendereihe