Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant, Theologin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche" und die diesjährige Preisträgerin des Österreichischen Staatspreises für Literaturkritik. Gestaltung: Alexandra Mantler

Immer bleibt einer übrig, der erzählt

"Ich spielte unter dem Tisch im Hof, wenn die Alten sich flüsternd Geschichten erzählten oder schöne Lieder traurigen Inhalts summten, die sie wiederum in ihrer Kindheit auf den Hochebenen Anatoliens gehört hatten. Schickt das Kind hier weg, sagte manchmal eine der dicklichen und nach Kölnischwasser riechenden Frauen .... Lass ihn, sagte Großvater. Immer bleibt einer übrig, der erzählt. Vielleicht wird gerade er einmal der Erzähler sein."

Dieses schöne Bild findet sich in Varujan Vosganians Roman "Buch des Flüsterns." Es sind die Nachkommen der Überlebenden, die oft Jahrzehnte später die literarische Stimme erheben und an das Unrecht der Vergangenheit erinnern und die Erfahrung ihrer Ahnen an ihre Nachkommen weitergeben, auf dass sie nie vergessen werde.

Vosganian geht in seinem Roman bis zu den Massakern im Jahr 1895/96 zurück, er folgt den Todesmärschen in die Wüste, zu denen die Armenier 1915 gezwungen wurden, er erzählt von den Überlebenden dieser Deportationen, die in alle Winde zerstreut in der Diaspora leben. Zum Beispiel in jenem rumänischen Dorf, wo der Ich-Erzähler seine Kindheit verbringt und weitere Geschichten seiner Vorfahren erfährt, die nicht nur mit entsetzlichen Bildern aus der Vergangenheit zu kämpfen haben, sondern auch mit der Schuld, überlebt zu haben.

Vosganians Roman ist 2013 auf Deutsch erschienen und erzählt die unfassbare Geschichte des armenischen Volkes. Geschichten wie diese können auch zum Gleichnis werden für die vielen anderen, unerzählten Geschichten. Zum Beispiel jene über den "Pfad der Tränen", die Deportationen von Indianern im 19. Jahrhundert, bei denen über ein Viertel der Indianer und der sie begleitenden Sklaven starben. Oder über die Millionen ermordeten Sklaven. Oder über den Völkermord in Ruanda ... Die erzählten Unrechtsgeschichten erinnern an Millionen anderer Vertriebener und Flüchtlinge an vielen Orten und zu vielen Zeiten, an die Opfer der Konzentrationslager und Gulags, die Opfer durch Massenmorde und Todesmärsche. Sie warnen vor den Auswirkungen von Nationalismus und Feindbildern.

Zahlen rühren oft gar nicht mehr, das ist die traurige Erfahrung beim täglichen Nachrichtenhören. Erzählungen schon. Sie geben den Opfern eine Geschichte und ein Gesicht.

Service

Buch, Varujan Vosganian, "Buch des Flüsterns", Verlag Zsolnay

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Komitas (Soghomon Soghomonian)/1869 - 1935
Vorlage: Traditional / Armenien
Bearbeiter/Bearbeiterin: Sergei Z. Aslamazian /Arrangement./1897 - 1978
Urheber/Urheberin: KOMITAS (Vardapet S. Soghomonian)/26.9.1869 Kutais (Kutahia) - 22.10.1935 Paris
Album: TÄNZE AUS DEM HERZEN EUROPAS / I Musici de Montreal
Titel: Nr.2 Al aylukhs (Mein Scharlachtuch / Mein scharlachrotes Kopftuch) : Allegretto (00:02:20)
Gesamttitel: ZEHN ARMENISCHE VOLKLIEDER UND VOLKSTÄNZE - für Streichorchester
Ausführende: I Musici de Montreal
Leitung: Yuli Turovsky /Violoncello und Leitung
Ausführender/Ausführende: Jacques Proulx /Percussion
Länge: 02:00 min
Label: Chandos CHAN10094

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