Auseinandersetzung mit Orten
Räume jüdischer Kultur
Mit dem "spatial turn" in den Kulturwissenschaften beginnt man auch in den Jüdischen Studien, den Blick für die konkreten Orte jüdischen Lebens zu schärfen. Dabei räumt man mit klischeehaften Vorstellungen von "rein" jüdischen Räumen wie dem Stetl auf.
8. April 2017, 21:58
Ghetto, Stetl, Judenviertel - wenn es um die Frage geht, in welchen Räumen sich jüdisches Leben abspielt, sind häufig klischeehafte Vorstellungen von "rein" jüdischen Orten im Spiel.
Eine vom Centrum für Jüdische Studien an der Universität Graz organisierte Konferenz zum Thema "Jewish Spaces", die diese Woche in Graz stattfand, versuchte, diese Klischees aufzubrechen und den Blick dafür zu schärfen, dass auch so genannte jüdische Räume immer von kulturellem Austausch zwischen Juden und Nicht-Juden geprägt waren.
Räumliche Dimension jüdischer Kultur wenig beleuchtet
"Im Anfang und in der Begründung der jüdischen Religion steht ein Ortswechsel", schreibt der Kulturwissenschaftler Joachim Schlör. Der biblischen Überlieferung nach schickt Gott Abraham aus seinem Vaterhaus und Geburtsland in ein Land, "das ich dir zeigen werde". Abraham errichtet in diesem neuen Land Altäre für seinen Gott; so entsteht das "Land Israel".
Die Auseinandersetzung mit Orten - sei es Zion oder seien es die vielen Stationen der Wanderung und des Exils - ist bis heute ein Leitmotiv der jüdischen Geschichte und Kultur geblieben. Dennoch beschäftigen sich die Jüdischen Studien erst seit einigen Jahren intensiver mit konkreten Orten und Ortswahrnehmungen.
"Man hat lange Zeit das Judentum als ein Phänomen betrachtet, das mehr in der Zeit steht - das irgendwo her kommt, irgendwo hin geht, das eine Geschichte hat und eine Zukunft und das auf Erlösung wartet", erklärt Joachim Schlör, Professor of Jewish/Non-Jewish Relations an der Southampton University. "Wo die Geschichte spielt, hat keine große Rolle gespielt."
Auf der Suche nach "authentischen" Orten
Mit dem stärkeren Fokus auf die konkreten Ortsbezüge jüdischen Lebens rücken auch Fragen nach den lokalen Unterschieden jüdischer Kultur in den Vordergrund. Sieht jüdisches Leben in Amsterdam anders aus als in Alexandria? Wenn ja, was genau ist das Andere daran? Und wie wirken sich die unterschiedlichen Migrationsströme und Migrationserfahrungen auf dieses Leben aus?
Dass solche Fragen an Bedeutung zunehmen, liegt nicht nur an innerwissenschaftlichen Trends, meint Joachim Schlör: Kulturkonflikte werden gerade in den Städten zunehmend räumlich ausgetragen - etwa über symbolische Kämpfe der Raumbesetzung. Und auch der in den letzten Jahren aufblühende Tourismus Richtung Osteuropa auf der Suche nach "authentischen" jüdischen Orten trage das Seine dazu bei. "Die Leopoldstadt in Wien, das Scheunenviertel in Berlin, Kazimierz in Krakau, die Elisabethstadt in Budapest sind plötzlich zu Szenevierteln geworden, in denen neben dem Nachtleben, den Discos und vielleicht sogar dem Straßenstrich das Jüdische einen roten Faden darstellt, der ein Viertel attraktiv macht."
Die Entmystifizierung des Stetls
Ein Ziel der neueren Raum-Forschungen in den Jüdischen Studien ist es, aufzuzeigen, dass Viertel wie diese nie allein jüdisch determiniert waren.
Joachim Schlör verdeutlicht das am Beispiel des mit Klischees überfrachteten Stetls: "In den meisten dieser kleinen Städte in Gallizien war vielleicht die Hälfte der Bevölkerung jüdisch. Von diesen 50 Prozent waren keinesfalls alle Gelehrte, sondern da entstand auch eine jüdische Arbeiterbewegung, da entstanden jüdische Parteien. Judentum ist keine Einheit, und es gab immer vielfältige Formen der Interaktion mit den christlichen Nachbarn - mit Polen, Ukrainern, Russen, Deutschen."
Die Verabschiedung räumlicher "Reinheitsvorstellungen"
Vorstellungen von "rein" jüdischen Räumen gilt es nicht nur in der Diaspora zu hinterfragen, sondern auch in Israel. Denn selbst die Stadt Tel-Aviv, die als zu "100 Prozent jüdische Stadt" gilt, enthält Erinnerungen an arabische und islamische Orte - verdrängte und überbaute, aber dennoch wiederkehrende Erinnerungen. Erinnerungen, die sich, so Joachim Schlör, nicht wegregieren oder wegmilitarisieren lassen.
Unter Intellektuellen habe hier bereits ein Bewusstseinsprozess angefangen: Man fängt an, Moscheen und muslimische Friedhöfe zu dokumentieren, die arabischen Namen von Orten in der Stadt wieder zu entdecken - und sich die Frage zu stellen, ob es nicht möglich sei, in einem Land mit mindestens zwei Identitäten, zwei Namen zu leben.
Hör-Tipp
Dimensionen, Freitag, 27. April 2007, 19:05 Uhr
Links
Centrum für Jüdische Studien - Graz
Makom - Graduiertenkolleg an der Universität Potsdam
Joachim Schlör - Southampton University