Demonstrant mit Protestschild in Albanien

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Testlabor Albanien: Land ohne TikTok

Als erster Staat in Europa hat Albanien im März 2025 ein komplettes TikTok-Verbot für zwölf Monate verhängen lassen. Grund war ein Mord an einer Schule wenige Monate zuvor. Was wie eine Maßnahme für das Kindeswohl wirkt, hat auch demokratiepolitische Schattenseiten. Dient das TikTok-Verbot der albanischen Regierung tatsächlich dem Schutz Jugendlicher? Oder ist es ein machtpolitisches Instrument, um die digitale Öffentlichkeit zu kontrollieren?

Die chinesische Kurzvideo-App "TikTok" gehört zu den beliebtesten sozialen Netzwerken weltweit. Über 1,6 Milliarden Menschen nutzen sie, vor allem Jugendliche. Auf der Plattform kursieren aber nicht nur Tanz- und Katzenvideos, sondern auch problematische Inhalte: Mobbing, Hass, religiöser Fanatismus.

Westliche Demokratien knöpfen sich TikTok nur zögerlich vor. In Österreich ist die App auf Diensthandys von Beamten und Mitarbeitenden von Ministerien verboten. Die USA wollen den chinesischen Mutterkonzern "Byte Dance" dazu verpflichten, sein US-Geschäft zu verkaufen.

Brennpunkt Albanien

Im November 2024 wird ein 14-Jähriger an einer Schule in Tirana von einem Mitschüler erstochen. Der Mord war die Initialzündung für das TikTok-Verbot in Albanien, aber was ist da genau passiert?

  • Martin Cani

    Franziska Tschinderle

  • Gartentor mit der Schrift "Martin You Are Everywhere"

    Gartentor der Familie Cani

    Franziska Tschinderle

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Franziska Tschinderle besuchte die Eltern des getöteten Jungen. Seinen Namen, Martin Cani, kennt mittlerweile das ganze Land. Aber der Vorfall bleibt ein Rätsel. Vor allem die Frage, welche Rolle Social-Media-Plattformen bei dem Streit spielten, denn Martin hatte gar kein TikTok. Anstatt im Internet, hat er seine Zeit lieber am Fußballfeld verbracht.

Edi Rama, Albaniens Ministerpräsident und der Initiator des Verbots, ist ein Typ Politiker, der selbst auf TikTok viral gehen würde. Kein Regierungschef auf dem Balkan nutzt Social Media so gekonnt wie der Ex-Basketballspieler und studierte Künstler. Das liegt auch daran, dass sich Rama vom Bild eines klassischen Staatsmannes abhebt.

Edi Rama

Edi Rama im Rahmen einer Wahlkampfveranstaltung

Franziska Tschinderle

Im Wahlkampf tritt er auch mal mit Jogginghose und weißen Sneakers auf. Rama hat seinen eigenen Podcast und geht zwei Mal die Woche live auf Facebook, um mit seinen Followern zu diskutieren. Warum verbietet so jemand eine Plattform, von der er selbst profitieren würde?

Jugendschutz vs Zensur

Die Opposition in Albanien glaubt, die Antwort zu wissen. Sie spricht von Zensur im Vorfeld der Parlamentswahlen, die in Albanien am 11. Mai 2025 abgehalten wurden.

Franziska Tschinderle

Besmir Semanaj

Im März 2025 meldete sich ein albanischer Cybersicherheitsexperte namens Besmir Semanaj zu Wort. Er hat jahrelang für den größten Telekommunikationsanbieter Albaniens gearbeitet und lebt mittlerweile in Wien. In einem Facebook-Posting enthüllt Semanaj, dass die Regierung ein Verfahren namens "Deep Package Inspection" (DPI) umsetzt. Das ist, stark vereinfacht, ein technischer Prozess, mit dem sich Datenpakete filtern lassen.

Die Behörden in Albanien betonen, dass DPI einzig und allein für die TikTok-Sperre eingesetzt werde. Aber auch internationale Expert:innen haben berechtigte Fragen. Denn autoritäre Staaten wie die Türkei nutzen DPI seit Jahren, um das Netz zu zensieren oder bei Protesten das Internet zu drosseln.

Politisch scheint Edi Rama von dem Verbot zu profitieren. Er hat die Wahl am 11. Mai 2025 mit absoluter Mehrheit gewonnen. Auch von Seiten der EU gibt es keine Kritik an dem kontroversen Verbot. Massenproteste blieben aus.

Drei Szenarien

Während sich die Öffentlichkeit nicht mehr mit dem Thema beschäftigt, zieht Autorin Franziska Tschinderle Bilanz und wagt einen Blick in die Zukunft. Sie hat drei Theorien, was es mit dem Verbot auf sich haben könnte. Im besten Fall ist alles nur ein PR-Stunt und die TikTok-Sperre in wenigen Monaten Geschichte. Im schlimmsten Fall hat sich die Regierung eines EU-Beitrittskandidaten ein mächtiges Werkzeug beschafft, das ihr niemand mehr nehmen kann.

Gestaltung: Franziska Tschinderle
Redaktion | Produktion: Sarah Kriesche