Ein Frauenschicksal in Amerika
Niagara
Joyce Carol Oates hat in ihren monumentalen Niagara-Roman alles hinein gemischt: Leben und Sterben, romantische Liebe und Mord, echte religiöse Gefühle und bigottes Pharisäertum, heimeliges amerikanisches Familienleben und dessen Verfall.
8. April 2017, 21:58
Die Brücke zu der kleinen Insel spannt sich nur eineinhalb Meter oberhalb dahin stürzenden, weißen Wassers. Ihre Planken sind nass, trügerisch. Der Mann umklammerte das Geländer, zog sich vorwärts. Die glatten Sohlen seiner Lederschuhe waren rutschig, seine runde Brille rutschte ihm ins Gesicht. Unbeirrt strebte er weiter der Südspitze der Insel zu - dem Terrapin Point, direkt oberhalb der Fälle.
Sekunden später wird der Mann, von dem hier die Rede ist, tot sein, zerschlagen und zerschmettert von den tobenden Wassermassen der Niagara-Fälle.
Spektakulärer Anfang
Joyce Carol Oates' neuer Roman startet spektakulär. Ein junger protestantischer Pfarrer namens Gilbert Erskine, stürzt sich unter Missachtung aller Gebote seines Gottes in den berühmtesten Wasserfall der Welt. Zurück bleibt eine junge Witwe. Das Pikante daran: Zum Zeitpunkt des Selbstmords ihres Mannes sind die beiden noch keine 20 Stunden verheiratet. Zwischen der Trauung und dem Sturz in den Wasserfall lag die Hochzeitsnacht. Das Debakel dieser Nacht gab dann auch den Grund, oder, wie sich später heraus stellt, einen der Gründe für die sündhafte Selbstentleibung des aufstrebenden, jungen Pfarrers.
Joyce Carol Oates hat einen Ruf zu verteidigen. Die heute 69-jährige Autorin ist so etwas wie eine Urmutter der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Ihre bislang rund 60 Romane erreichten in den USA und weltweit regelmäßig die Bestseller-Ränge. Oates' Name findet sich in den Verleihungslisten fast aller wichtigen amerikanischen und internationalen Literaturpreise. Für den Pulitzer-Award war sie drei Mal nominiert - hat ihn bislang allerdings nicht bekommen und alle Jahre wieder wird Oates als heißer Tipp für den Nobelpreis gehandelt.
Ein Frauenleben zwischen Glück und Tragödie
Joyce Carol Oates hat also einen Ruf zu verteidigen, und tatsächlich beginnt ihr neuer Roman grandios. Man könnte auch sagen: sofort und direkt in Hollywood verfilmbar. Man sieht die Wasserschwaden förmlich vor sich, die dampfenden Nebel auf der breiten Kinoleinwand, die spritzende Gischt an einem frühen Sommermorgen, und mitten darin den schmächtigen, bebrillten jungen Mann, der einsam seinem Tod zustrebt. So weit, so gut. Liest man in dem fast 600-seitigen Buch dann freilich weiter, macht sich, so viel vorweg, irgendwann Ernüchterung breit.
Erzählt wird ein Frauenleben: das der jungen Witwe, ein Frauenleben zwischen Glück und Tragödie, zwischen hellen Momenten und Schicksalsschlägen, zwischen der Sorge um eine Familie und um drei Kinder und den verbleibenden, schwer errungenen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung. Bei Ariah Burnaby, geborene Littrel, verwitwete Erskine, kommt noch die fixe Idee hinzu, dass auch ihr zweiter Mann, der erfolgreiche und lebensfrohe Rechtsanwalt Dirk Burnaby, sie unumgänglich eines Tages verlassen wird.
So kommt es dann auch. Es gibt einen Autounfall, und im Gefolge wieder einen Tod im Wasser. Auch dabei sind die Dinge nicht so, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Dirk, der Rechtsanwalt, hat sich wider alle Vernunft auf einen Fall eingelassen, der tief ins gesellschaftliche Leben hinein reicht, in die Belange der Honoratioren und Business-Männer der Kleinstadt, in der er lebt.
Allerweltsweisheiten in technischer Perfektion
Die berühmten Wasserfälle und ihre tosenden Fluten bilden den permanenten Hintergrund von "Niagara", wie auch gleichsam das Sinnbild für die menschlichen, emotionalen und gesellschaftlichen Strudel, die das Leben für Ariah bereit hält.
Das Ganze gibt durchaus ein spektakuläres Buch ab. Arbeitet man sich in den 600 Seiten indes voran, beginnt sich der Leser irgendwann die Frage zu stellen: Was will mir die Autorin nun letztlich sagen? Worauf will sie hinaus, außer auf die Tatsache, dass das Leben nun eben unberechenbar und wild ist, dass hinter jede Ecke eines scheinbar ruhigen Stroms die nächste Stromschnelle lauern kann, die nächste Untiefe, oder gar ein Wasserfall von der Dimension des Niagara? Und dass das für Frauen gleichermaßen gilt wie für Männer.
Bei aller Brillanz der Sprache und des Erzählens, die Joyce Carol Oates fraglos zuzusprechen ist, drängt sich mitunter der Gedanke auf, ob diese technische Perfektion nicht auch eine gewisse inhaltliche Dürftigkeit übertüncht. Zu oft, zu simpel schreibt Oates Allerweltsweisheiten.
Oates' Buch ähnelt ein wenig einer der bekannt opulenten Hollywood-Breitwand-Filmproduktionen. Visuell brillant und durchaus atemberaubend inszeniert, lassen sie den Kinogeher am Ende oft mit der Frage zurück: Und? Was habe ich jetzt eigentlich gesehen?
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 27. April 2007, 16:30 Uhr
Ex libris, Sonntag, 29. April 2007, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Joyce Carol Oates, "Niagara. Ein amerikanisches Verhängnis", aus dem Amerikanischen übersetzt von Silvia Morawetz, S. Fischer Verlag, ISBN 978-3100540072