Philipp Sarasin im Gespräch
Der unsichtbare Feind
Bald nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 tauchten Briefe mit echtem und falschem Anthrax-Gift auf. Obwohl schnell wieder aus den Medien verschwunden, steht der Begriff dennoch für eine unsichtbare Bedrohung durch Biowaffen.
8. April 2017, 21:58
Philip Sarasin über Bildung und Geisteswissenschaften
Doris Stoisser spricht mit dem Schweizer Historiker und Kulturphilosophen Philipp Sarasin. 1956 in Basel geboren, hat er Geschichte, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften in Basel, Heidelberg und Paris studiert. 1999 Habilitation, seit 2000 ist er Professor der ETH Zürich.
Doris Stoisser: Herr Professor Sarasin, das Buch, mit dem Sie 2004 auf sich aufmerksam gemacht haben, trägt den Titel "Anthrax. Bioterror als Phantasma". Sie schreiben gleich im ersten Satz des Vorworts: "Dieses Buch kommt zu spät" - für einen Historiker eine interessante Feststellung, weil Historiker vermeintlich immer rückblicken. Aber Anthrax ist völlig vergessen.
Philipp Sarasin: Der Anlass, auf den sich das bezieht, also diese vergifteten Briefe nach 9/11, im Oktober 2001 in Amerika, dieses Ereignis ist vergessen. Unter anderem, weil es im Nachhinein nicht ganz so spektakulär war wie die Bilder von den kollabierenden Türmen, die wir alle seither unendliche Male gesehen haben. Und zweitens, weil es nie eine Aussage gab, wer der Täter hinter diesen Briefen war. Das FBI hat den Täter nicht gefunden. Es gibt auch keine politische Aussage, keine Behauptung, die sich irgendwie validieren ließe. Es gab Spekulationen, es könnte die Al Kaida gewesen sein. Ich spekuliere, es war eher ein Inside-Job, aber beweisen kann das niemand.
Es ist auch vergessen, meine ich, weil das Problem, auf das diese Briefe rekurrieren, was sie bezeichnen, diese ganze Frage nach den Massenvernichtungswaffen im Irak ... ich behaupte in diesem Buch, dass diese Anthrax-Briefe eigentlich der Phantasy-Link waren zwischen dem 11. September, dieser Flugzeugattacke, und den so genannten Massenvernichtungswaffen im Irak. Die wurden ja dann nicht gefunden. Diese Geschichte ist abgehakt. Wir wissen alle, die Regierung hat damals gelogen, und es muss jetzt vorerst offenbar nicht weiter interessieren, wie es dazu kam.
Das Buch befasst sich damit, wie die Fantasie in der amerikanischen Terrorbekämpfung mit dem 11. September die Herrschaft über die Wirklichkeit übernommen hat. Das ist ja etwas, was bis heute wirksam ist. Dass Fantasien über die Realität Oberhand gewonnen haben. Ist die Tatsache, dass sich eine Gesellschaft und ihr Blick so verändert hat, nicht der eigentliche Sieg Bin Ladens - falls es den geben sollte?
Das kann man so sagen. Man kann wahrscheinlich auch sagen: Sogar falls man die Urheberschaft bin Ladens am 11. September in Zweifel ziehen würde - was ja gewisse Leute tun, auch ich habe meine Zweifel, aber das ist gar nicht der Punkt. Bin Laden hat dadurch, dass er von vielen potenten Sprechern als der Urheber ausgezeichnet wurde, es geschafft, das Klima in den westlichen Gesellschaften nachhaltig zu verändern. Insofern ist das ein grandioser Sieg!
Wie wir alle wissen, funktioniert Terror immer nur in der Sphäre der Öffentlichkeit. Das Ereignis selbst war zwar schrecklich, aber wirkungsvoll war tatsächlich dieses Installieren eines phantasmatischen Bildes. Wechselseitig, muss man ja sagen, vom jeweiligen so genannten Gegner in diesem so genannten "clash of civilisations" - an den ich nicht glaube, aber der heraufbeschworen wird. Insofern ist für mich Anthrax als Phantasma zentral, weil es darum geht, mit welchen Bildern perzipieren wir die Wirklichkeit, und wie nehmen wir angebliche oder auch tatsächliche Gefahren wahr?
Hör-Tipp
Im Gespräch, Donnerstag, 29. März 2007, 21:01 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
CD-Tipp
"Im Gespräch Vol. 7", ORF-CD, erhältlich im ORF Shop
Buch-Tipps
Philipp Sarasin
"Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren", Suhrkamp 2007, ISBN 3518294075
"Anthrax. Bioterror als Phantasma", Suhrkamp Taschenbuch 2004, ISBN 3518123688