"Keine Untat, die ich zu bereuen habe"

Zeitgenosse Grass im Gespräch

Im April verließ Michael Kerbler gleich zwei Mal das Studio: Nach dem Gespräch mit dem Schriftsteller Dimitré Dinev im Akademietheater fand am 20. April das nächste statt: mit Nobelpreisträger Günter Grass anlässlich einer Autorenlesung im Volkstheater.

Günter Grass über Medien und Demokratie

Nur acht Tage nach dem ersten Durchgang der "Zeitgenossen im Gespräch" mit dem in Österreich lebenden bulgarischen Autor Dimitré Dinev fand die nächste Spezialausgabe vor Publikum statt. Im Rahmen einer Autorenlesung im Wiener Volkstheater sprach Michael Kerbler mit dem Schriftsteller Günter Grass nicht nur über "Beim Häuten der Zwiebel", sondern auch über seinen jüngsten Gedichtband "Dummer August", der in sehr persönlicher Weise die Erfahrungen des Autors mit der Debatte über dessen SS-Vergangenheit widerspiegelt.

"Soviel geballte Niedertracht hatte ich noch nicht erlebt", erinnerte sich Grass an die Aufregungen des zweiten Halbjahres 2006, doch obwohl gerade die geballte Kritik ihn mundtot habe machen wollen, habe er reagieren können - mit dem Schreiben seines Gedichtbands "Dummer August".

Ehe er daraus Gedichte las, die - wie "Am Pranger" oder "Mein Makel" - unverhohlen auf die damals aufgeheizte Situation Bezug nehmen, gab er mit zwei Auszügen aus "Beim Häuten der Zwiebel", bei denen er die Zuhörer in den Bann zog, eindrucksvolle Beispiele seiner stupenden Erzählkunst.

Die große Flut

Kaum drei seiner insgesamt 955 Lebensmonate hat der in Danzig geborene Literaturnobelpreisträger die Uniform der Waffen-SS getragen. Dieses von Grass spät nachgereichte biografische Detail hat in der zweiten Jahreshälfte 2006 eine Flut von Reaktionen ausgelöst.

Das Spektrum reichte von hassgeprägten Äußerungen, Diffamierungen, Rechthaberei und Unverständnis, über differenzierte Kritik und deutlich gemachte Enttäuschung, bis hin zu verständnisvollen Wortmeldungen, ja anerkennender Bewertung der Haltung des Schriftstellers. Am Höhepunkt der Debatte, im Jahr 2006, führte Michael Kerbler bereits ein erstes "Im Gespräch" mit Günter Grass.

Ausgeblendet wird häufig, dass Grass sich nicht freiwillig zu der mordwütigen Elite-Truppe des NS-Regimes gemeldet hat, sondern dorthin eingezogen wurde. Die Debatte, genauer die Art und Weise wie über Günter Grass' Schweigen debattiert wurde, verstellt den Blick auf die Botschaften, die in dem Buch enthalten sind. Die Themenkreise Erinnern, Vergessen und Verdrängen, die Ursachen der Sprachlosigkeit der Kriegsgeneration, und Grass selbstkritischer Blick auf das Warum der Verführbarkeit durch Ideologie macht dieses Buch zur Pflichtlektüre.

Eine verführte Generation

Er gehöre einer Generation an, "die verführt wurde und die sich verführen ließ", betonte Grass. Er habe, wie so viele seiner Altersgenossen, als Jugendlicher "eine Reihe von Gelegenheiten versäumt, Fragen zu stellen." Er habe sich nicht freiwillig gemeldet und glücklicherweise nicht an Einsätzen teilnehmen müssen. "Da ist keine Untat, die ich zu bereuen habe." Doch im späteren Wissen um die Verbrechen der Waffen-SS habe er seine Teilnahme "wie eine Schande empfunden. Das hat sich bei mir verkapselt. Ich wusste: Eines Tages wirst du darüber in einem größeren Zusammenhang schreiben müssen."

Er habe viele Zuschriften von Lesern seines Buches erhalten, dass die Lektüre ihnen oder ihren Eltern erstmals ein Sprechen über das selbst im Krieg Erlebte ermöglicht habe, so Grass. "Ein Buch, das offenbar einer Vielzahl von Lesern die Zunge löst - etwas Besseres kann sich ein Autor nicht wünschen."

Während die Vergangenheit etwas sei, "das uns immer wieder einholt", konstatierte Grass für die Gegenwart einen beängstigenden Opportunismus - auch unter Journalisten - und eine Politik des Lobbying, die das freie Mandat ersetzt habe. "Da die Politiker nicht von sich aus eine Bannmeile gegen jede Lobby aufbauen, muss der Druck von außen kommen. (...) Was wir brauchen, ist so etwas wie 1968. Doch die junge Generation ist stumm und passt sich nur an."

Jüngste Preisverleihung
Am Sonntag ist Günter Grass in Neuburg an der Donau mit dem Ernst-Toller-Preis ausgezeichnet worden. Gewürdigt würden damit Grass' "pazifistische Grundeinstellung und der Versuch, mit Literatur für humanere Lebensverhältnisse möglichst aller Menschen zu wirken", begründete Stefan Neuhaus von der Universität Innsbruck die Entscheidung der Ernst-Toller-Gesellschaft.

Mehr zu Günter Grass in oe1.ORF.at

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Hör-Tipp
Zeitgenossen im Gespräch Spezial: Günter Grass, Dienstag, 1. Mai 2007, 22:05 Uhr

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