Übersinnliches und Transzendentes
Das stille Mädchen
Nach zehn Jahre hat Peter Hoeg, der mit "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" einen Weltbestseller gelandet hatte, wieder ein neues Buch herausgebracht. In "Das stille Mädchen" thematisiert er das Übersinnliche und Transzendente.
8. April 2017, 21:58
Gott die Herrin hatte einen jeglichen Menschen in seiner eigenen Tonart gestimmt, und Kasper konnte sie heraushören. Am besten in den kurzen, ungeschützten Augenblicken, in denen sie schon in seiner Nähe waren, aber noch nicht ahnten, dass er lauschte. Deshalb wartete er am Fenster, auch jetzt.
Mit den Worten "Gott die Herrin" einen Roman zu beginnen, ist mehr als ungewöhnlich. Zudem bestimmt "Gott die Herrin" als transzendente Strippenzieherin das gesamte Romangeschehen. "Ich verbrachte einen Teil meiner Kindheit in einer orthodox-christlichen Schule", erklärt Hoeg dazu. "Da habe ich oft als Kind gedacht: die Dreieinigkeit - Vater, Sohn und der Heilige Geist - das ist doch merkwürdig: Warum ist Gott ein Mann?! Und ich habe die Mädchen in meiner Klasse angeguckt und habe gedacht: Wenn ich ein Mädchen oder eine Frau wäre, dann wollte ich mich nicht ganz sicher und entspannt fühlen in einem Universum, in dem Gott ein Mann ist."
Mensch mit zwei Gesichtern
Der Romanheld aus "Das stille Mädchen" ist Kasper Krone - ein berühmter Clown. Seine metaphysische Fähigkeit besteht darin, dass er sofort weiß, auf welchen Grundton ein Mensch gestimmt ist - und so kann er auch dessen Charakter erkennen. Zudem ist Kasper Krone ein Liebhaber der Musik von Johann Sebastian Bach. Es werden äußerst viele Musikstücke zitiert, so dass der 450 Seiten starke Roman auch ein kleines Kompendium der Bachschen Werke abgibt. Auf der anderen Seite ist Kasper Krone ein Nachfahre von Philip Marlowe. Er ist ein detektivisches Stehaufmännchen.
Der Clown ist der Mensch mit den zwei Gesichtern, jemand, bei dem das Lachen ins Weinen nahtlos übergeht. Kasper Krone ist einerseits ein ganzer Mann und doch zugleich einer, der das Göttliche und Transzendente nicht leugnet. Er ist auch nicht immer Herr der Lage. Die Steuerfahndung ist hinter ihm her und manchmal wirkt er in seinem Tun ganz schön verwirrt.
Weswegen hat aber Hoeg überhaupt die Figur des Clowns als Protagonisten gewählt? Weil der Clown eine Figur sei, die viele verschiedenen Seiten vereint, so Hoeg. Der Clown sei eine Figur, die den Kontakt mit der Kindlichkeit in sich selbst behalten habe.
Metaphysischer Showdown
Kasper Krone lernt KlaraMaria - das stille Mädchen - kennen und erahnt den Grundton ihres Wesens: Sie besitzt enorme metaphysische Fähigkeiten. Allerdings bemerken dies auch andere Zeitgenossen, die mit KlaraMarias Begabungen dubiose Geschäfte machen wollen. Das stille Mädchen wird entführt und damit beginnt eine spannende Kriminalgeschichte, die auch wahnwitzigen Verfolgungsjagden durch Kopenhagen zu bieten hat.
Am Schluss des Romans zeigen KlaraMaria und einige andere Kinder, die ebenso mit metaphysischen Kräften ausgestattet sind, Kasper Krone, was sie wirklich können. Alles soll hier nicht verraten werden, aber eine kleine Kostprobe des übersinnlichen Showdowns darf man schon geben.
Vielleicht stiegen sie senkrecht empor. Er blickte durch eine Erscheinung, welche die Lichtwand des Gebäudes sein konnte, vielleicht eine Halluzination, vielleicht eine neue Form visueller Wahrnehmung. Er hatte den Eindruck, dass Kopenhagen unter ihnen absackte. Als sänke die Stadt in den Abgrund. Doch können wir uns jemals sicher sein?
Augen auf und durch!
Sicher ist, dass die Mixtur von Crimestory und Übersinnlichem schon in "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" zum Tragen kam. In "Das stille Mädchen" wird dies aber zum entscheidenden Faktor des Erzählten. Hoegs Roman hat sehr viele Nebenhandlungen, durch die man den roten Faden leicht aus den Augen verliert. Da gibt es nur eines: Augen auf und alles in einem Zug durchlesen! Die vielen Dialoge über Gott und die Welt, die oft witzigen philosophischen Apercus, die schnellen Wechsel von Orten und Begebenheiten.
Am Schluss des Romans setzt das stille Mädchen KlaraMaria ein übersinnliches Lächeln auf und zeigt ihre Wolfszähne. Und der Leser gerät bei diesem metaphysischen Roadmovie - ganz ohne Zweifel! - in den Sog von Peter Hoegs unnachahmlicher Erzählkraft.
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Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Peter Hoeg, "Das stille Mädchen", aus dem Dänischen übersetzt von Peter Urban-Halle, Carl Hanser Verlag, 2007, ISBN 978-3446208247