Alternde Lust und Alterslust
Sex im Alter und so halt
Zunächst: Ich bin nicht alt. Alt sind immer die Anderen. Und die blöden Witze, von wegen ab einem gewissen Alter wäre Essen wichtiger als Sex, treffen mich nicht, warum auch. Aber man wird doch noch theoretisieren dürfen!
8. April 2017, 21:58
Dass ich gerne esse und auch gerne koche, ist kein Geheimnis. Auch nicht, dass ich Bücher liebe, in denen vom Kochen, Essen und Genießen zu lesen ist. Doch seit ein paar Tagen haben wir - das Kochen, das Essen und ich - ein getrübtes Verhältnis.
Das wäre an sich nichts Schlimmes, das gab es früher auch schon. In solchen Fällen half, einen oder zwei Tage nur Äpfel zu essen, oder nur Wasser zu trinken, oder drei Tage hintereinander in die Sauna zu gehen oder sonst was Ähnliches, dann war diese leichte Trübung gewichen, und einer neuen Phase von Genuss und Lebensfreude stand nichts mehr im Weg.
Diesmal aber ist es anders. Meine diversen üblichen Genuss-Wiedergewinnungs-Maßnahmen haben kläglich versagt: fotografiertes Essen in Hochglanzkochbüchern begutachten. Uraltkochbücher schmökern. Nicht mal Keller aufräumen, Marmeladebestände überprüfen und Leerflaschen abtransportieren half! Ebenso absolut wirkungslos: der Gang durch den mit exotischen Früchten und appetitlichem Gemüse über und über bestückten Supermarkt. Kein kirschrotes Tomaterl, kein grasgrünes Salatschi, weder saftig lockende Hawaii-Ananashälften noch unschuldig winkende Fenchelschöpfe erzeugen diesen mit "Ha! Aus euch mach' ich ein feines Fresserchen!" einhergehenden Zugriffsdrang. Nichts. Als würden meine Geschmackspapillen müde abwinken und "Lass gut sein, Alte!" flüstern.
Was ist los mit mir, frage ich mein Spiegelbild. Die paar Fettröllchen? Die zwei, vier, sechs Kilo zu viel? Das kann ja doch wohl nicht der Grund sein. Spätpubertärer Vegetarieranfall auch nicht. Und dass ich zu alt wäre, um Essen beziehungsweise dessen kolportierten Ersatz zu genießen - auf gar keinen Fall! Die 66 Jahre, von denen Udo Jürgens meint, da würde das Leben erst wirklich anfangen, sind noch einige paar Jährchen weit weg.
Und dann fällt es mir ein: Ich bin ein Opfer der Medien! Die Heringe sterben aus, die Thunfische sind nur mehr in Restbeständen vorhanden, Viktoriabarschfischerei zerstört die Lebensgrundlage von Seefischern. Lachse, Garnelen und Tomaten werden unter Zuhilfenahme von Giften gezüchtet, Kälber, Truthähne und Kürbisse können ohne Hormone nicht mehr wachsen. Darüber gibt es unzählige Berichte. Das macht misstrauisch.
Noch misstrauischer macht, was in den heimischen Regalen angeboten wird: Orangen, Zitronen, Limonen, vielleicht auch Äpfel kommen nur mehr "behandelt" auf den Markt. Die früher wunderbar schlürfweichen Kaki sind verschwunden. Kaki werden ausschließlich hart und unreif angeboten, dafür haben Pfirsiche keine Härchen mehr. Und Yoghurt gibt es nur mehr mit irgendwelchen Bakterien drin, oder mit viel zu hohem Wasseranteil, oder mit Erdbeerersatzstoffen angereichert - oder glauben Sie im Ernst, dass so viele Erdbeeren wachsen wie Erdbeeryoghurt erzeugt wird?
Mit einem Wort: mich graust's. Und die Alternative ist für mich nicht machbar: eine Kuh, ein Schwein, mehrere Hühner und Gänse im Garten, Salatbeet, Frühgemüse, Obstbäume. Na gut, mit Obstbäumen und Himbeersträuchern habe ich schon angefangen, aber mehr ist nicht drin, zeitlich gesehen. Mehr an Frische und Bodenständigkeit.
Ha! Das ist es! Das habe ich verdrängt: Ich bin draufgekommen, dass mich meine Herren Lieblingsköche an der Nase herumgeführt haben. Besser gesagt, ich wurde mit der Nase drauf gestoßen, denn geahnt habe ich es immer schon. Zum ersten Mal, als man mir bei einem der renommierten Tafelspitzköche einen Apfelkren angeboten hat, den ich nie im Leben meinen Gästen serviert hätte: falsche Äpfel, falsche Zubereitung, schmeckte wie aus dem Fabriksglas, war aus dem Fabriksglas. Mein Verdacht erhärtete sich, als meine Glutamat-allergische Freundin bei einem Topgastronomen alle Symptome einer Glutamat-Allergie zeigte.
Jetzt habe ich es Schwarz auf Weiß: von zwei Spezialisten, die ihre jahrzehntelange Heferlguckerei in den Küchen der Topgastronomie verbüchert haben und von Kunstsahne, halb- und ganz vorgefertigten Gerichten und verdorbener Ware berichten. Ich habe es verdrängen wollen. Das habe ich nun davon: Grausen vor meinen schönen Kochbüchern. Ekel vor den Produkten des Fleischhauers meines Vertrauens. Bleischwere Hände beim Hantieren in meiner wunderbaren Küche.
Gottlob ist jetzt Fastenzeit. Ich versuche es mit selbstgebackenen Brot - woher stammt das Mehl? Mit frischem Quellwasser - unsere Dorfquelle wird regelmäßig amtlich überprüft! Und wenn mich der Hunger packt, schaue ich mir eine Kochshow im Fernsehen an und kommentiere die Sprüche der Hobby- und Berufsköche: frische Himbeeren, jetzt im Winter!!! Natürlich, weiße Trüffeln müssen sein! Schon wieder Shrimps! Erfreulicherweise ist mein geliebter Schatz langmütig und geduldig: Er hat mich noch nicht darum gebeten, diese hysterische Herumbrüllerei einzustellen. Er weiß: Es ist eine Phase. Es hört auf. Hoffentlich.
Buch-Tipp
Peter Gnaiger, Wolfgang Hoffmann, "In die Suppe gespuckt. Von Sternen, Hauben und anderen Geschäften", Ecowin Verlag, ISBN 3902404361