Anna Mitgutsch

Zwei Leben und ein Tag

Schreibt man die Geschichte der menschlichen Existenz auf, dann kann das, folgt man Anna Mitgutsch, nur eine Geschichte des Scheiterns sein. Als großes, fast schon leuchtendes Idol hat sich die Oberösterreicherin dabei Herman Melville vorgenommen.

Schon auf den ersten Seiten lässt Anna Mitgutsch keinen Zweifel daran, worum es in ihrem neuen Roman geht. Es geht ums Ganze: um die ganze Liebe, um das ganze Leben, um die Existenz schlechthin.

In meinem Schreibtisch habe ich eine Liste griffbereit, auf der ich die besten Stunden meines Lebens aufgeschrieben habe. Für den Fall, dass ich sie vergessen habe, wenn ich Trost brauche.

Das wird Anna Mitgutsch einige hundert Seiten später ihrer Briefe schreibenden Ich-Erzählerin in den Mund legen oder besser: ins Schreibwerkzeug diktieren.

Vorbild des Scheiterns

Schreibt man die Geschichte der menschlichen Existenz auf, dann kann das, folgt man Anna Mitgutsch, nur eine Geschichte des Scheiterns sein. Als großes, fast schon leuchtendes Idol hat sich die Oberösterreicherin dabei Herman Melville vorgenommen, den Autor des Romans "Moby Dick".

Melville wurde Zeit seines Lebens nur wenig Anerkennung als Schriftsteller zuteil. Als "Moby Dick" 1851 erschienen, fiel der Existenzroman um den wahnsinnigen Kapitän Ahab, den Steuermann Starbuck und den weißen Wal, der seine Jäger vernichtet, bei der zeitgenössischen Kritik vollkommen durch.

Melvilles Traumata

In ihrem Roman verwebt Anna Mitgutsch geschickt vier, genau gesagt: zwei mal zwei Elemente zu einem Ganzen. Da sind einmal die Bücher Melvilles, die die 1948 geborene, gelernte Anglistin Mitgutsch in Beziehung zur - zweitens - Biografie Melvilles und zur Geschichte seiner Familie setzt. Das Scheitern ist in Melvilles Familie ein wiederkehrendes Phänomen: Hermans Vater, Allen Melville, ein Kaufmann, ging ebenso in Konkurs wie später sein Schriftsteller-Sohn und starb im Wahnsinn, als Herman 12 Jahre alt war. In geistiger Umnachtung endete auch einer seiner anderen Söhne, Hermans älterer, als brillant geltender Bruder Gansevoort. Ein Sohn Herman Melvilles wiederum erschoss sich als 16-Jähriger.

Diese Kindheits-Traumata sind es, so Anna Mitgutsch, die den Autor Melville über den Wahnsinn später Sätze wie "In jedem von uns steckt derselbe Brennstoff, der das gleiche Feuer entfachen kann" schreiben lässt.

Zweiter Erzählstrang

Das zweite Paar von Elementen, die Anna Mitgutsch zu ihrem großen Roman über die grundsätzliche Vergeblichkeit des Lebens inklusive der Liebe verbindet, sind: einmal die Liebes- und spätere Ehegeschichte eines österreichisch-amerikanischen Paares, das sich während eines Studienaufenthalts der zu diesem Zeitpunkt jungen Ich-Erzählerin in einer Galerie für zeitgenössische Kunst kennen lernt. Er schreibt gerade an seiner Dissertation über - richtig - Herman Melville, der den Literaturwissenschafter für den Rest seines Lebens beschäftigen wird. Und zweitens: die Geschichte des geistig behinderten Sohnes der beiden, Gabriel, wobei unklar bleibt, ob es sich um Autismus, um ein Boderline-Syndrom oder eine andere Erkrankung handelt.

Gabriel stellt, so die Interpretation Mitgutschs in einem Interview, den Prototyp des "guten Menschen" dar, den das Leben quasi ausspeit. Nach dem Tod der ihn umsorgenden Mutter, fällt er buchstäblich unter die Räuber.

Wie ein böser Traum

Es kann nicht verwundern, dass ein Buch, in dem das Sterben und der Tod, der Wahnsinn und der Untergang derart heimisch sind, auch eine dem gemäße Sprache spricht. Es kann kaum gezählt werden, wie oft da etwas "ausgehaucht" wird, "zum Erliegen kommt", etwas "versengt" wird oder "der Einbruch der Zerstörung" stattfindet.

Manchem mag das übertrieben erscheinen. Andererseits, hat man sich einmal daran gewöhnt, dann hat Anna Mitgutsch ihre Handlung jederzeit im Griff und erzählt sie fachlich kompetent wie technisch mustergültig. Sie entführt den Leser in die Welt Melvilles und die seiner Romane ebenso wie in die heutige Geschichte einer Liebe, die genauso scheitern muss, wie der Sohn, der aus ihr hervorgeht.

"Die Unabwendbarkeit, die unverrückbare Schicksalhaftigkeit war es, die das Ganze so furchtbar machte", zitiert Anna Mitgutsch ihren Melville. Ihr eigener Roman ist einer jener, aus deren Lektüre man aufwacht wie aus einem Traum, und das ist an sich ja ein gutes Zeichen. Es ist freilich ein böser Traum.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 9. Februar 2007, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 11. Februar 2007, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Anna Mitgutsch, "Zwei Leben und ein Tag", Luchterhand Verlag, ISBN 978-3630872568