Kim Jong Ils Nordkorea

Die totale Erinnerung

Der Fotoband "Die totale Erinnerung", den Christian Kracht gemeinsam mit der Regisseurin Eva Munz und dem Fotografen Lukas Nikol herausgegeben hat, besticht durch die eindrucksvollen Bilder, denen Zitate von Kim Jong Il gegenüber gestellt sind.

Christian Kracht ist kein Unbekannter, er gilt als einer der Begründer der "Pop-Literatur" im deutschsprachigen Raum. Krachts Bücher zehren stark von Reiseerfahrungen, wobei Kracht eine besondere Vorliebe für möglichst entlegene und entrische Destinationen hat. Vor diesem Hintergrund ist sein Besuch in Nordkorea, den er gemeinsam mit den Fotografen Eva Munz und Lukas Nikol unternommen hat, keine Überraschung.

Eine Art künstlerisches Statement

Die Drei haben mit "Die totale Erinnerung" allerdings keine Fotodokumentation ihrer Nordkorea-Reise vorgelegt, sondern mehr eine Art künstlerisches Statement. Nach einem Vorwort von Kracht überlässt man nämlich einem anderen das Wort, und zwar Kim Jong Il selbst: Die Fotos in dem Buch sind mit Zitaten aus Kim Jong Ils theoretischer Abhandlung "Über die Filmkunst" unterlegt oder - wie die drei Herausgeber es nennen - "rhythmisiert". Die Zitate des filmbegeisterten Diktators sind dabei gleichermaßen bombastisch wie banal. Ein Beispiel:

Ein Film beginnt mit Details, aber am Ende nimmt er große Formen an. Das ist auch im allgemeinen Leben so.

Dadurch, dass diese Zitate im Buch als Bildunterschriften zu Aufnahmen aus dem nordkoreanischen Alltag verwendet werden, erhalten sie eine andere Bedeutung. Kracht, Munz und Nikol wollen damit zu verstehen geben, dass sie nahezu alles, was sie in Nordkorea gesehen haben oder vielmehr sehen durften, für eine Inszenierung halten.

Kim Jong Ils Volksrepublik ist eine gigantische Installation, ein manisches Theaterstück, das sich anschickt, in seiner hermetischen Akribie und seiner perfekten Potemkinisierung einen ganzen Staat zu simulieren. Nur, und das ist die zentrale Frage - für wen eigentlich?

Die Antwort gibt Christian Kracht ein paar Seiten weiter selbst: für Kim Jong Il selbst.

Für ihn wird das alles geschaffen - Nordkorea ist nichts ohne Kim Jong Il, und Kim Jong Il ist nichts ohne Nordkorea. Er ist, in seinen eigenen Worten, Sonne, Sterne und Erde zugleich; Kamera, Leinwand, Projektor, schließlich auch Regisseur und Publikum.

Ein Gedanke so radikal wie einleuchtend - angeführt von einem Filmtheoretiker und Filmemacher wird der ganze Staat zu einem Kunstwerk, zu seiner Vision und zu einem gigantischen Filmset.

Kim Jong Ils Inszenierungen

Dass Christian Kracht auf diese Weise Kim Jong Il - quasi von Künstler zu Künstler - zu viel Respekt und Verehrung entgegenbringt und die massiven Menschenrechtsverletzungen in Nordkorea dabei ausblendet, hat in Deutschland bei der Veröffentlichung des Buches zu einer kleinen Kontroverse im Feuilleton geführt. Der Vorwurf ist nicht gänzlich unberechtigt, allerdings ist da bei Kracht auch sehr viel einfach nur kalkulierte Provokation und dandyhafte Pose.

Wie grotesk und lächerlich er und seine Reisegefährten die Inszenierungen in Kim Jong Ils Nordkorea in Wirklichkeit empfunden haben, zeigt sich auf der letzten Doppelseite des Buches. Dort ist ein Schild auf einer Mauer zu sehen, das einen piktogrammartig gezeichneten Mann mit kugelrundem Bauch und nach oben gerecktem Kopf zeigt. Dieses Bild findet sein Echo auf der gegenüberliegenden Seite, dort sieht man ein Foto des "geliebten Führers" Kim Jong Il - in einer nahezu identen Körperhaltung.

Titel als Metapher

Den Titel "Die totale Erinnerung" haben sich Christian Kracht & Co. von einer gleichnamigen Kurzgeschichte des amerikanischen Science-Fiction-Autors Philip K. Dick ausgeborgt, die mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle auch verfilmt worden ist. Es geht darin um künstliche Erinnerungen, die Menschen implantiert werden. Philip K. Dick, der sich in seinen Werken leitmotivisch mit Simulation und Simulakren auseinander gesetzt hat, wird von Kracht auch explizit in seinem Vorwort erwähnt. Das ist nicht nur eine Metapher für die Manipulation der Menschen in Nordkorea, sondern zugleich auch eine Warnung an uns im Westen.

Das Bild Nordkoreas, das wir uns machen, ist dadurch geprägt, dass wir aus diesem Land so wenige Bilder haben. Denken wir ein wenig darüber nach, sehen wir vielleicht die Phantasmen einer Vergangenheit, die wir nie erlebt haben; wir sehen einen totalitären Traum.

Ausschnitt des Lebens

Das Beeindruckendste an dem Buch sind Fotos, die Menschen in Uniform oder vor den allgegenwärtigen Propagandaplakaten zeigen. Den Fotografen ist es dabei gelungen, sehr menschliche und erstaunlich individualistische Regungen der Menschen einzufangen - das gibt Anlass zu der Hoffnung, dass selbst in der totalitärsten Diktatur der menschliche Charakter und die menschliche Substanz nicht völlig deformiert werden können.

Natürlich zeigen diese Fotos nur einen Ausschnitt und vermögen nur beschränkt Einblick und auch Auskunft zu geben. Die Geschichten zu den Gesichtern und Menschen auf diesen Fotos bleiben uns vorerst und wohl auch noch für längere Zeit verborgen. Oder in den Worten von Christian Kracht:

Wie Millionen von Koreanern leben, was sie essen, wie sie zur Arbeit gehen, was sie dort tun, wir wissen es nicht.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
"Die totale Erinnerung. Kim Jong Ils Nordkorea", Fotografien von Eva Munz und Lukas Nikol, mit einem Vorwort von Christian Kracht, Rogner & Bernard Verlag, ISBN 978-3807710204