Ein Roman wie ein Labyrinth

Das gemalte Zimmer

Inger Christensen nimmt das Deckenfresko im Palazzo Ducale zum Ausgangspunkt, um in drei Erzählteilen eine mögliche Geschichte der Beziehungen der darauf Dargestellten zueinander zu erschließen. Es ist eine Geschichte von Liebe, Hass und Intrige.

1474 vollendete der Maler Andrea Mantegna jene Wand- und Deckenfresken, die er im Auftrag des Fürsten Gonzaga für dessen Palazzo Ducale in Mantua entworfen hatte und mit denen er eines der bedeutendsten Werke der Frührenaissance schuf. Die Fresken befinden sich in der so genannten Camera degli Sposi - und eben diese ist jene "Camera picta", jenes "gemalte Zimmer", auf das der Titel von Inger Christensens Erzählung verweist.

Mantegna versammelte in seinem monumentalen Werk die Mitglieder der fürstlichen Familie und zahlreiche Zeitgenossen, und lieferte mit bestimmten Figurenkonstellationen, mit Allegorien und Symbolen Generationen von Kunsthistorikern Material für die unterschiedlichsten Deutungen und Spekulationen. Inger Christensen nimmt dies zum Ausgangspunkt, um in drei Erzählteilen eine mögliche Geschichte der Beziehungen der Dargestellten zueinander zu erschließen. Es ist eine Geschichte von Liebe, Hass und Intrige, teilweise basierend auf historischen Fakten, teilweise frei erfunden, wobei die Grenze zwischen real und fiktiv oft schwer zu orten ist.

Die Tagebücher des Marsilio Andreasi

Der erste Teil bringt Ausschnitte aus den Tagebüchern des fürstlichen Sekretärs Marsilio Andreasi. Er erzählt vom Leben am Hof, macht als Chronist der Ereignisse - von Mantegnas Ankunft in Mantua bis zum Tod des Malers - den Leser mit allen wesentlichen Personen bekannt. Vor allem aber ist er der Geliebte von Mantegnas Ehefrau Nicolosia und hat für den Maler zunächst nur Worte der Verachtung übrig.

Doch dann stirbt Nicolosia völlig überraschend - durch Mord, wie sich später herausstellen wird - und die beiden Männer finden in einer seltsamen, schwierigen Art von Freundschaft zueinander.

Andere Perspektive

Der zweite Abschnitt eröffnet eine völlig andere Perspektive auf dieselbe Zeit und dieselbe Personengruppe. Erst auf der letzten Seite dieses Abschnitts wird - in einer überraschenden Wendung - klar, wer hier spricht, wer jener auktoriale Erzähler ist, der so genau Bescheid weiß über illegitime Kinder, kirchenpolitische Machtkämpfe und die heimlichen Beziehungen, die Papst Pius II. mit der Fürstin Gonzaga verbinden. Viele der Fragen, die Marsilio Andreasis Tagebücher aufwarfen, finden hier unerwartete Antworten, viele neue Fragen ergeben sich.

Spaziergang in verschiedenen Ebenen

Der dritte und kürzeste Abschnitt enthält einen Aufsatz von Mantegnas zehnjährigem Sohn Bernardino. Er berichtet von einem, wie er es nennt, "Spaziergang in das Bild meines Vaters hinein". Es ist ein Spaziergang, bei dem verschiedenste Zeit- und Wirklichkeitsebenen ineinander übergehen - und spätestens hier wird deutlich, worum es Christensen geht: um das Infragestellen der Annahme einer einzigen gesicherten, für alle Menschen gleichen Realität.

Ist die Welt des Bildes nicht genau so wahr und wirklich wie die angeblich natürliche? Ist sie nicht in sich stimmig - so wie es für jeden Menschen in sich stimmige Erfahrungs- und Erkenntnisbereiche gibt, die sich mit denen anderer Menschen stets nur in Teilbereichen überschneiden? Wie kann dann aber Gemeinschaft, wie können Staaten funktionieren? Ist, um ein Miteinander möglich zu machen, Uniformität oder Diversifikation zu fordern?

Das sind Fragen, die in verschiedenster Ausformung allen drei Abschnitten des Buches anklingen. Ein für Christensens Auffassung von Welterfahrung zentrales Motiv ist dabei das (in ihren Werken immer wiederkehrende) Bild des Labyrinths: Auf einer für alle gültigen Basis stehen Anfang und Ende fest - dazwischen aber es gibt eine Vielzahl von verschlungenen Wegen, Begegnungen auf diesen sind stets nur punktuell, zufällig.

Täuschend echte Illusionen

Aus gutem Grund bezieht Inger Christensen ihr Buch gerade auf Mantegnas Fresken im Palazzo Ducale in Mantua, gelten diese doch als ein bahnbrechendes Werk der illusionistischen Malerei, das bislang unbekannte, täuschend reale Raumwirkungen eröffnete. Schade nur, dass jene drei Details aus den Fresken, auf die sich die drei Erzählteile explizit beziehen, nicht so wie in der dänischen Originalausgabe dem jeweils entsprechenden Abschnitt vorangestellt sind. Aber das ist nur ein kleiner Mangel in einem von Hanns Grössel großartig übersetzten Buch, das sich allerdings nicht aufs erste Lesen erschließt, denn um alle Schnittpunkte des Labyrinths aufzufinden, ist vermutlich mehrmaliges Durchwandern nötig.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 4. Februar 2007, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Inger Christensen, "Das gemalte Zimmer. Eine Erzählung aus Mantua", aus dem Dänischen übersetzt von Hanns Grössel, Suhrkamp Verlag, 2006, ISBN 978-3518222188