Menschen im Hotel Lutetia
Lutetias Geheimnisse
Pierre Assoulines Roman, in Frankreich bereits 2005 erschienen, dreht sich um die Menschen im Pariser Nobelhotel Lutetia und durchläuft damit fast hundert Jahre französischer Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen.
8. April 2017, 21:58
Auf den ersten Blick unterscheidet sich das 1910 eröffnete Pariser Luxushotel Lutetia nur wenig von den anderen Hotelpalästen wie dem Ritz oder dem Crillon. Was es aber doch einzigartig macht, ist seine Lage. Denn das Lutetia ist das einzige unter den historischen Grand-Hotels, das sich auf dem linken Seine-Ufer befindet; auf der "rive gauche", jenem Teil der Metropole, von dem sich Intellektuelle und Künstler schon immer angezogen fühlten. So verwundert es auch nicht, dass James Joyce hier Quartier bezog, ebenso wie André Gide und in den 1930er Jahren deutsche Emigranten wie Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger oder Arnold Zweig.
Dandys und Damen
Mehr als 30 Jahre hat Pierre Assouline sich mit dem Lutetia beschäftigt; am Ende seines Romans findet sich dann auch eine Liste von mehr als 100 - meist historischen - Texten, die in sein Buch Eingang fanden. Ungewöhnlich für ein literarisches Werk. Diese Fülle an Material ist eine Schwäche des Romans, denn seltsam flach wirken die Figuren, die Assouline am Beginn seines Buches vorstellt.
Da gibt es die Dandys der Zwischenkriegszeit, die die Hotelhallen belagern und deren einziges Problem darin besteht, welches Stecktuch sie zu welchem Anzug tragen sollen. Dann findet natürlich ein Duell statt, zwischen einem Deutschen und einem Franzosen, um so die historische Feindschaft der beiden Länder zu illustrieren. Die Frauen sind distinguiert und stolzieren in ihren Coco-Chanel-Kostümen herum. Natürlich gibt es auch einen Hoteldieb, der es auf die Juwelen der Gäste abgesehen hat.
Aus der Sicht des Hoteldetektivs
Mit Beginn des zweiten Kapitels beginnt das Buch spannend zu werden. Am 15. Juni 1940 - gut vier Wochen nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht - requiriert die deutsche Abwehr das Hotel und verpflichtet den zweisprachigen Edouard Kiefer als Dolmetscher. Jener Kiefer ist die Hauptfigur und der Erzähler des Romans. Als Hoteldetektiv hat er Zugang zu allen Räumen, er sieht alles, er hört alles.
Zunächst bleibt er auch unter deutscher Besatzung distanzierter Betrachter und nimmt zur Kenntnis, wie die Rangordnung des Hotels mit seinen Chefportiers, Wagenmeistern, Etagenkellnern und Küchenjungen durch die Hierarchie des deutschen Militärs abgelöst wird. Aber je länger der Krieg dauert, desto tiefer wird Monsieur Kiefer in ihn hineingezogen. Sich neutral zu verhalten geht nicht mehr.
Rückkehr der KZ-Überlebenden
Da ist zum Beispiel Natalie, die auf Grund ihrer jüdischen Herkunft fliehen muss und Kiefer um Hilfe bittet. Und da ist jene Szene, die die innere Ordnung des Detektivs zerbrechen lässt: Eine Runde deutscher Offiziere versammelt sich auf der Dachterrasse des Hotels, um beim Abendessen einen Luftangriff der Alliierten zu genießen. Und um dem Ganzen den richtigen Anstrich zu verleihen, muss der passionierte Waldhornspieler Edouard dazu musizieren. In der Beschreibung des Gewissenskonfliktes des unscheinbaren Helden beginnt der Roman Kontur anzunehmen.
Wirklich gut wird "Lutetias Geheimnisse" aber erst im dritten und letzten Teil. Dafür wird der Roman dann aber sehr, sehr gut. Nach der Befreiung Frankreichs wird das Lutetia - wie andere Hotels auch - von der französischen Regierung dazu verpflichtet, die zurückkehrenden KZ-Überlebenden zu registrieren und zu versorgen. Es sind zittrige, ausgelaugte, mehr tote als lebendige Gestalten, die sich im Hotel einfinden. Präzise beschreibt Assouline das Gefühl der Fremdheit derer, die alles verloren haben.
Beeindruckende Szenen
Zwei Szenen, die zu den stärksten des Buches gehören und den dahin plätschernden Beginn mehr als vergessen machen.
Szene 1: Da sich auch ehemalige Kollaborateure unter die Heimkehrer mischen, müssen die Repatriierten beweisen, dass sie wirklich in den KZs waren. Ihre Tätowierungen werden peinlich genau untersucht und unter der Führung von Edouard Kiefer werden sie penibel nach Details ihrer Gefangenschaft befragt. Gerade dem Tod entronnen, werden diese geschundenen Kreaturen schon wieder verhört, sind sie bereits wieder verdächtig, die Unwahrheit zu sagen und müssen sich und ihr Überleben rechtfertigen.
Szene 2: Ein Zurückgekehrter erzählt über den Tag, als sie aus dem KZ evakuiert und in ein anderes gebracht wurden. Der Lagerkommandant steht am Eingang. Die Hände an der Hosennaht sieht er aus wie ein Hotelpage. Und dann sagt er mit einem Tonfall von Aufrichtigkeit in der Stimme, zu jenen, die zum Todesmarsch aufbrechen. "Ich hoffe, Sie werden Ihren Aufenthalt bei uns nicht in allzu schlechter Erinnerung behalten."
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Pierre Assouline, "Lutetias Geheimnisse", aus dem Französischen übersetzt von Wieland Grommes, Blessing Verlag, 2006, ISBN 978-3896672872