"Wir haben Stil"

Vierzig Rosen

Die Familiengeschichte, mit wunderbarer Leichtigkeit erzählt, weitet sich zu einem Gesellschaftspanorama, das die Schweizer Geschichte ebenso umfasst wie die Anpassungsrituale, zu denen die moderne Gesellschaft die Menschen zwingt.

Ja, es stimmt schon: Es ist (wieder) ein Buch über die eigene Familie, das Thomas Hürlimann mit seinem neuen Roman vorlegt, aber es ist auch dieses Buch mehr als ein simpler Schlüsselroman, denn es bleibt die Lebensgeschichte der Mutter, die der Schweizer Autor hier entwirft, in ihrer Bedeutung durchaus nicht auf die eigene Familie beschränkt. Vielmehr weitet sich, was Hürlimann hier in wunderbarer Leichtigkeit erzählt, zu einem Gesellschaftspanorama, das die spezifische Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts ebenso umfasst wie die Anpassungsrituale, zu denen die moderne Gesellschaft die Menschen nicht allein in der Schweiz zwingt.

Zu ansehnlichem Reichtum gekommen

Marie Katz, die Hauptfigur aus "Vierzig Rosen", ist eine Großmeisterin dieser gesellschaftlichen Anpassung. Sie ist die Urenkelin eines galizischen Wanderschneiders, der sich einst in einem nicht näher bezeichneten Teil der Schweiz niedergelassen hat und dessen Sohn es als Lieferant der allerfeinsten polnischen, galizischen und russischen Gesellschaft zu ansehnlichem Reichtum brachte. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts umfasste sein Anwesen neben den Nähereien ein richtiggehendes Schlösschen an einem Seeufer mit einem ausgedehnten Park.

Mitten hinein in dieses gediegene Ambiente, das im alteingesessenen Schweizer Umfeld freilich stets noch fremd wirkte, wurde im Jahre 1926 Marie geboren. Schon in ihren ersten Lebensjahren ging es mit dem Familienbetrieb bergab, durch die Wirtschaftskrise und schließlich den Krieg brach der Absatz der feinen Kleidungsstücke völlig zusammen.

Immer die Contenance wahren

Nicht eben leicht hatte es, abgesehen vom wirtschaftlichen Niedergang der Familie, eine getaufte Judentochter wie sie während der Zeit des Nationalsozialismus auch in ihrem unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld. Die Art und Weise, in der die rassistische Ideologie in die Schweiz schwappte, schildert Hürlimann anhand seiner Hauptfigur in unglaublich plastischen Differenzierungen. Und allein wegen dieser Passagen sollte man das Buch eigentlich lesen!

Wichtiger als alle Enttäuschungen indes, die Marie erlebt, ist die Erziehung, die sie von ihrer Maman mit auf den Weg bekommt. In Zentrum des vermittelten Wertesystems steht ein Satz, der die Anleitung für das vermeintliche Gelingen eines Frauenleben auf den Punkt bringt und für Marie zum Lebensmotto wird: On a du style - Wir haben Stil. Jene Art von Stil, die hier gemeint ist, nämlich unter allen Umständen die gesellschaftliche Contenance zu wahren und wenn nötig, alles zu dulden, prägt das Leben von Marie Katz. Der entscheidende Moment im Leben der Frau ist und bleibt: die Heirat.

Kein eigenes Leben möglich

Marie Katz ehelicht einen jungen, ehrgeizigen Mann, ohne Vermögen, aber mit einem klaren Ziel, nämlich als Politiker die ganz große Karriere zu machen. Von diesem Moment an, so macht Hürlimann klar, ist es mit ihrem eigenen Leben vorbei. An eine Karriere als Konzertpianistin, zu der sie das Zeug gehabt hätte, ist ebenso wenig zu denken wie an irgendeine Regung, die sie von dem einmal gewählten Weg abbringen könnte.

Mit der Hochzeit bekommt Marie Katz nicht nur einen neuen Namen, sondern auch ein funkelnagelneues Lebensprogramm. Dieses Programm ist - denn man hat Stil - für alle Zeiten fixiert und heißt genauso wie der Bräutigam: Max Meier. In der Person von Thomas Hürlimanns Vater, Hans Hürlimann, der im Jahr 1979 Schweizer Bundespräsident war, hat auch diese Figur ein reales Vorbild, aber auch hier bedurfte es für den Autor, um die Figur mit Leben zu füllen, der Schlüssellochperspektive nicht.

Ein Frauenschicksal wie aus einer anderen Zeit

Enttäuscht mag sein, wer sich von Hürlimanns Buch Klatsch und Tratsch aus der hohen Politik erwartet hat - um solches zu liefern, hat der Autor selbst zu viel Stil.

Interessant und wichtig ist an der Geschichte von Marie Katz und Max Meier etwas anderes, nämlich die radikale Perspektivierung auf ein Frauenschicksal, das aus einer anderen Zeit zu kommen scheint. Thomas Hürlimann schildert dieses voremanzipatorische Leben, ohne auf die Tränendrüse zu drücken. Das Leben von Marie Katz stellt sich solcherart in der größten Einfachheit dar: Max Meier hat in seiner Braut von Beginn an eine First Lady gesehen, und sie hat in ihrem Leben wirklich alles getan, damit er an ihr einmal tatsächlich eine solche haben sollte.

All die kleinen und großen Überwindungen, all die vergebenen Chancen und all die Verletzungen, die es dazu brauchte, schildert Thomas Hürlimann in seinem Buch in aller Ausführlichkeit und in allen Details. Kurzum: ein grandioser Roman - gerade deshalb, weil es in ihm nicht um mehr geht, aber eben auch um keinen Deut weniger.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 26. Jänner 2007, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 28. Jänner 2007, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Thomas Hürlimann, "Vierzig Rosen", Ammann Verlag, ISBN 978-3250601005