Das Leben der Roma
Zoli
"Zoli" von Colum McCann ist ein äußerst engagierter Text. Er ist ein Plädoyer für die Außenseiter und der Versuch, Geschichte anhand derer zu erzählen, die sie am eigenen Körper erleiden mussten. Allerdings lässt er dabei kein Klischee aus.
8. April 2017, 21:58
Marienka Novotna, genannt Zoli, ist die Hauptperson des neuen Romans von Colum McCann. Als Kind musste sie miterleben, wie ihre Familie im Winter von den slowakischen Faschisten auf den See getrieben und gezwungen wurde , solange zu verharren, bis das Eis brach und sie hilflos ertranken. Außer ihr überlebte nur der Großvater dieses Massaker und zusammen mit ihm zieht sie durch die Welt; immer auf der Flucht, immer den Schikanen der Behörden ausgesetzt.
Nach dem Krieg dann eine kurze Phase der Hoffnung: Die Kommunisten sehen die Roma als das wahre Gesicht des Proletariats und sie sind vor Anfeindungen sicher. In dieser Zeit wird Zoli zum Postergirl der Assimilation. Sie trägt ihre Gedichte, die sie bis dato heimlich schrieb, der Öffentlichkeit vor, wird bejubelt und ist plötzlich ein Star. Aber im gleichen Maße, indem ihr Ansehen steigt, entfernt sie sich von ihrer Herkunft. Die anderen Roma, für die Lesen und Schreiben schon immer Dinge des Teufels waren, verachten sie. Und auch ihre Liaison mit dem englischen Autor Swann trägt nicht gerade dazu bei, das Verhältnis zu den anderen zu verbessern.
Große Literatur
Wie schon in dem Vorgängerroman "Der Tänzer", der das Leben der Tanzikone Rudolf Nurejew beschreibt, erzählt McCann auch "Zoli" von mehreren Perspektiven aus. Zuerst ist da ein Reporter, der sich im Jahr 2003 nach Bratislava aufmacht, um dort letzte Spuren von Zoli zu finden. Später erzählt Zoli ihr Leben, dann der Dichter Swann seine Eindrücke, und schließlich Stransky, der den Säuberungswellen Stalins zum Opfer fällt.
Literarisch gibt es an dem Buch nichts auszusetzen. Wenn McCann schildert, wie die Roma von den Faschisten auf den See getrieben werden, wenn er davon erzählt, wie das Eis zu knacken und krachen anfängt und die Todesangst fast spürbar wird, dann ist das ganz große Literatur. Ebenso die Szene, in der er lakonisch, mit ganz wenigen Sätzen und eher nebenher berichtet, wie die neuen kommunistischen Machthaber die Roma zwingen, ihre Wagen zu verbrennen, um sie gegen ihren Willen zu sesshaften Bürgern zu machen.
Spätestens hier wird klar, dass der Roman mehr als bloße Literatur sein will. McCann beleuchtet die großen Fragen unserer Zeit. "Zoli" ist nicht nur ein Text über die Problematik der Immigration und der Integration, mehr noch wird hier das Problem der Identität aufgerollt. Wie entsteht sie, wer definiert sie, wie ändert sie sich?
Viele Klischees
Das einzige, das man dem Autor vorwerfen kann, sind die Zigeuner-Klischees, mit denen der Text gespickt ist. Die jungen Roma in Bratislava der Jetzt-Zeit belagern sofort das Auto und betteln, die Alten saufen und wollen Geld. Zoli hat natürlich feurige Augen, ein wildes Gemüt, und wenn ein Hotelangestellter nicht pariert, dann droht sie, ihn zu verhexen. Die Roma sind allesamt gegen Bildung und hassen jeden, der sie vom Gegenteil überzeugen will. Und wenn McCann dann über die traurigen Lieder am Lagerfeuer schreibt, dann glaubt man endgültig, in einer Operette des 19. Jahrhunderts gelandet zu sein. Aber vielleicht ist das keine Schwäche; vielleicht ist die Realität ja genau so, wie man schon immer geglaubt hat, dass sie ist.
Und so hängt es wohl vom Standpunkt des Lesers ab, ob er "Zoli" als unendlich vorurteilbehaftetes Buch liest, indem kein Zigeunerklischee ausgelassen wird, oder als brillante Schilderung des Alltags einer seit jeher verfolgten Volksgruppe. Lesenswert ist der Roman allemal.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 19. Jänner 2007, 16:30 Uhr
Ex libris, Sonntag, 21. Jänner 2007, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Colum McCann, "Zoli", aus dem Englischen übersetzt von Dirk van Gunsteren, Rowohlt Verlag,, 2007, ISBN 978-3498044893