Jonglieren mit Opferzahlen

Holocaustforschung in Südosteuropa

Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Jugoslawien begann die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie auf Hochtouren zu laufen. Die Aufarbeitung dieser Zeit wurde lange verhindert. Heute jonglieren nationalistische Politiker mit Opferzahlen.

Judenvernichtung, Bürgerkrieg und den Widerstand der Tito-Partisanen entfachte der Zweite Weltkrieg im Königreich Jugoslawien. Die Geschichtsschreibung, die nach Kriegsende betrieben wurde, bezeichnen Historiker heute als "Geschichtsrevision".

Eine vollständige Aufarbeitung des Holocaust verhinderte zunächst das sozialistische Regime unter Tito. Im Vorfeld des jüngsten Balkankonflikts jonglierten nationalistische Politiker mit Opferzahlen und Täterrollen.

Nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie

Das Königreich Jugoslawien konnte sich zunächst knappe zwei Jahre lang aus den Kriegswirren heraushalten, bis es im Frühjahr 1941 von der Deutschen Wehrmacht und ihren Verbündeten überfallen wurde.

Die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie begann sofort nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Jugoslawien auf Hochtouren zu laufen. "Serbien war - nach Estland - das zweite Land unter nationalsozialistischer Herrschaft, aus dem es hieß, dass es 'judenfrei' sei, und auf kroatischem Gebiet wurden noch im ersten Besatzungsmonat Konzentrationslager errichtet", sagt der Politikwissenschaftler Walter Manoschek, Vorstand am Institut für Staatswissenschaft an der Universität Wien.

Kollaborierende Regime

Bereits vier Tage nach dem deutschen Überfall auf Jugoslawien proklamierten Hitler, Mussolini und die faschistische, kollaborierende Ustascha-Bewegung unter der Führung von Ante Pavelic die "Nezavisna drzava Hrvatska", kurz NDH. Der "Unabhängige Staat Kroatien" umfasste auch Bosnien Herzegovina. Wie Hitler ein "judenfreies" Europa anstrebte, so strebte Pavelic ein "serbenfreies" Großkroatien an.

Auf dem Gebiet des NDH-Staates wurde das größte Konzentrationslager des Balkans errichtet - das KZ Jasenovac. Walter Manoschek: "Das Ustascha-Regime ist unabhängig von den Deutschen gegen jüdische, serbische oder oppositionelle Bevölkerungsgruppen vorgegangen. Das heißt der Großteil der kroatischen Juden ist in Kroatien von Kroaten umgebracht worden."

Rolle der Bevölkerung wenig erforscht

Inwiefern die von den Nazis in Serbien eingerichtete Marionettenregierung unter Milan Nedic und die Bevölkerung des Landes aktiv am Judenmord beteiligt gewesen sind, ist bis heute nur unzureichend erforscht. Erwiesen ist, dass mit den Besatzern kollaboriert wurde. Die Hauptverantwortung für Terror und Mord lag hier allerdings bei der Deutschen Wehrmacht, der die SS und die serbischen Polizeikräfte unterstellt waren.

Ein Drittel des Besatzungsapparates in Serbien formten Österreicher, darunter der General Franz Böhme, der von Hitler zu Bekämpfung des organisierten militärischen Partisanenwiderstandes unter Josip Broz - Tito - eingesetzt wurde. "Innerhalb weniger Wochen ermordeten die Exekutionskommandos der Wehrmacht in Serbien mehr als 20.000 Zivilisten - als Vergeltung für Partisanenaktionen. Die Unterstützung für die Widerstandsbewegung sank", so Manoschek. Folglich mussten sich die Tito-Partisanen im Winter 1941/42 temporär aus weiten Teilen Serbiens in Richtung Montenegro und Bosnien zurückziehen. Sie sollten wieder erstarken und in den Jahren 1944 und 1945 Jugoslawien, sowie Teile Italiens und Österreichs befreien.

Instrumentalisierung der Kriegstoten

Die in den 1980er und 1990er Jahren von nationalistischen Historikern und Politikern wie Franjo Tudjman oder Slobodan Milosevic zur perfiden Perfektion gebrachte Kriegsopfer-Arithmetik hat schon unter dem sozialistischen Tito-Regime begonnen.

Der Belgrader Historiker Dragan Cvetkovic nimmt an dem vor wenigen Jahren installierten Dialogprogramm serbischer und kroatischer Geschichtswissenschafter teil: "Das Ziel der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien war, der Internationalen Gemeinschaft möglichst hohe Opferzahlen zu präsentieren. Damit sollten hohe Reparationszahlungen von Deutschland erreicht werden. Die Zahl von 1,7 Millionen Kriegstoten, die damals in Umlauf gebracht wurde, entsprach nicht den tatsächlichen Begebenheiten, kreierte aber eine Menge Mythen, die seitens der Politik in den 1980er und 1990er Jahren ausgenützt und zur Aufheizung der Kriegsstimmung im ehemaligen Jugoslawien verwendet wurden."

Kampflätze der Erinnerungspolitik

Im Zuge der nationalistischen Unabhängigkeitsbestrebungen in den 1980er und 1990er Jahren wurden aus Opfern und Tätern Opfer- und Täter-Nationen. Zwei Orte wurden zu zentralen Kampfplätzen serbischer und kroatischer Erinnerungspolitik. Sie spalten bis heute serbische und kroatische Historiker, Politiker sowie die Bevölkerung der beiden Staaten. Wenn auch bei weitem nicht mehr so stark wie im ausklingenden 20. Jahrhundert. Es handelt sich einerseits um das größte jugoslawische Konzentrationslager, das kroatische KZ Jasenovac und um einen Ort in Österreich: Bleiburg in Südkärnten.

Dorthin flüchteten Mitte Mai 1945 die jugoslawischen Kollaborateure der Nationalsozialisten - kroatische Ustascha, slowenische Domobrancen, serbische Tschetniks und andere. Begleitet wurden sie von Zivilisten, die bei einem Verbleib in der Heimat Übergriffe der Partisanen befürchteten. Als die Flüchtlinge in Bleiburg ankamen, übergaben sie die britischen Besatzer an die Partisanen. Wie viele Personen diese daraufhin umbrachten, ist unklar. Die Rache der Partisanen gehörte zu den Tabus der Tito-Zeit.

Hass zwischen Ethnien geschürt

Mit Hilfe übertriebener Opferzahlen zu Jasenovac und Bleiburg schürten Kroaten und Serben in den 1990ern den gegenseitigen Hass der Ethnien. Das von den Ustascha geführte KZ Jasenovac wurde auf kroatischer Seite vom Historiker und späteren Präsidenten des Landes Franjo Tudjman zum bloßen "Arbeitslager" hinuntergespielt.

Ähnliches geschah auf serbischer Seite, sagt Dragan Cvetkovic: "In Serbien behaupteten Personen, die sich selbst als "Historiker" bezeichneten - was sie nicht waren - dass in Jasenovac zwischen 700.000 und eine Million Menschen ermordet worden sind, der Großteil davon Serben. Die Kroaten verneinten diese Zahl und sprachen von 20.000 bis 40.000 Opfern." Über das Massaker in Bleiburg behauptete die kroatische Seite wiederum, dass dabei 200.000 Menschen umgekommen seien. Die Serben sprachen davon, dass es nicht mehr als 10.000 Opfer gegeben hat. Cvetkovic: "All das schaffte ein sehr schlechtes Klima und die Menschen begannen, einander zu hassen."

Seriöse Jasenovac-Studie

Eine der wenigen, in der Fachliteratur immer wieder zitierten, seriösen Jasenovac-Studien kommt nach der Auswertung des Zensus von 1964 sowie 140 Monografien und anderen Materialien zu dem Schluss, dass im größten KZ Jugoslawiens etwa 85.000 Menschen ermordet worden sind - der Großteil davon Serben, gefolgt von Juden, Kroaten und Roma.

Wie viele Menschen insgesamt dem Holocaust in Jugoslawien zum Opfer fielen, ist bis heute nicht genau bekannt. Sämtliche seriösen Berechnungen deuten darauf hin, dass die vier Kriegsjahre dem Vielvölkerstaat etwa eine Million Kriegstote hinterließen - etwa acht Prozent der Gesamtzahl der Bevölkerung. Die Mehrzahl darunter sind von Jugoslawen getötete Jugoslawen. Die Zahl der jüdischen Opfer liegt - einer detaillierten Berechnung Holm Sundhaussens zufolge - zwischen 55.000 und 60.000, die 4.000 ausländischen Juden nicht hinzugezählt. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebten etwa 80.000 Juden auf jugoslawischem Boden.

Viele offene Fragen

Die Forschungsdesiderata seien im gesamtjugoslawischen Raum nach wie vor relativ hoch, sagt Walter Manoschek: "Besonders, was die Frage der Justiz nach 1945 angeht. Sind etwa Personen vor jugoslawischen Gerichten wegen Judenverfolgung, Judenvernichtung angeklagt gewesen, sind Urteile gesprochen worden? Und auch die Rolle der Bevölkerung beziehungsweise ihr Wissen über Judenverfolgung und Judenvernichtung sind ungeklärt."

Hör-Tipp
Dimensionen - Die Welt der Wissenschaft, Dienstag, 16. Jänner 2007, 19:05 Uhr

Buch-Tipps
Hg. Monika Flacke: "Mythen der Nationen. 1945 - Arena der Erinnerungen.", Verlag Phillip von Zabern, ISBN 380533298X

Walter Manoschek: "'Serbien ist judenfrei': militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42." Oldenbourg, ISBN 3486559745

Holm Sundhaussen: "Geschichte Jugoslawiens: 1918 - 1980.", Kohlhammer

Link
Goethe-Institut Sarajevo