Eine Globalgeschichte 1780-1914
Die Geburt der modernen Welt
In seinem Buch vernetzt Christopher A. Bayly in der Zeit von 1780 bis 1914 geschichtsträchtige Ereignisse in Europa mit jenen auf der restlichen Welt und zeigt, dass es nicht nur der Westen war, in dem sich große Revolutionen zugetragen haben.
8. April 2017, 21:58
Die industrielle Revolution Ende des 18. Jahrhunderts in England, die politische Revolution in Frankreich von 1789 bis 1799 - ein Blick in viele Geschichtsbücher vermittelt den Eindruck, dass die wichtigsten Revolutionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem von Europa ausgegangen sind.
Dem Professor für Imperial- und Marine-Geschichte an der Cambridge University in Großbritannien, Christopher A. Bayly, ist das allein zu wenig. In seinem Buch "Die Geburt der modernen Welt" beurteilt er die Rolle anderer Staaten wie etwa die Indiens und Chinas neu und stellt die Ereignisse im 19. Jahrhundert in ungewohnte Zusammenhänge. Vernetzung ist das große Stichwort seiner Arbeit. Dabei will er die Geschichte nicht neu schreiben, sondern lediglich zur Reflexion anregen.
Revolution des Fleißes
Christopher Bayly schreibt - zumindest für die Zeit vor 1830 - zwei Arten von sozialem und ökonomischem Wandel viel größere Bedeutung zu als der Industrialisierung: der großen Domestizierung, dem Sesshaftwerden der Menschheit, und der Revolution des Fleißes, einem Konzept, das ursprünglich vom niederländischen Historiker Jan de Vries entwickelt wurde. Es beschreibt eine neue Art von Effizienz der Familienarbeit in Holland, Südengland, Norddeutschland und in den 13 britischen Kolonien in Nordamerika durch den Zukauf von Gütern und Leistungen außerhalb der eigenen Familie.
De Vries' Revolutionen des Fleißes klingen manchmal etwas zahm und hausbacken und lassen an den Duft der Delfter Vasen und die glänzenden, zufriedenen Rinder des holländischen Malers Cuyp denken. Doch dem ist bei Weitem nicht so. In der Karibik waren Brutalität und Unterjochung an der Tagesordnung. Die erzwungene und brutale Revolution des Fleißes blähte den Bestand an bewaffneten europäischen Schiffen auf und vervollkommnete spanische, holländische, französische und britische Techniken, ihre Macht auf die Welt auszudehnen. Und schließlich waren Europa und die nordamerikanischen Kolonien gut informierte Gesellschaften, in denen Neugier und Gier Informationen zum Hilfsmittel für die Welterkundung und später die Welteroberung machten.
Ausbreitung der Weltreligionen
Bayly stellt nicht nur Thesen über die Einmaligkeit Europas, wie die von Karl Marx aufgestellten in Frage, sondern kritisiert auch die Entzauberung der Welt von Max Weber, die von einem Verschwinden der Religionen spricht. Stattdessen sei es sogar zu einer Ausbreitung der Weltreligionen gekommen, und zwar nicht nur innerhalb der nationalen Grenzen. Diesen Prozess hält der Historiker zwar für wichtig, was ihn aber nicht daran hindert, ihn in seiner Bedeutung gleich wieder einzuschränken:
Es wäre jedoch falsch zu denken, dass im Jahr 1914 überall auf der ganzen Welt unangefochten Uniformität in der Glaubenspraxis herrschte, ganz zu schweigen vom Glauben. Im Gegenteil, die religiöse Erfahrung vieler Menschen, reicher wie armer, blieb zwiespältig, gebrochen und rebellisch.
Weltweite Uniformität der Kleidung
Nicht nur im Glauben findet eine weltweite Annäherung statt, sondern es kommt auch zu einer Uniformität der Kleidung, die darin besteht, dass sich etwa chinesische Nationalisten plötzlich mit Zylinder und schwarzem Gehrock, oder Maori-Häuptlinge mit schwarzem Mantel und weißer Fliege kleideten; ein Trend, der sich in Sprachen, Zeitmessung, Namensgebung und Ernährung fortsetzt. So mahnt der Historiker Christopher Bayly mehrmals davor, den Übergang zur Moderne zu einseitig zu betrachten:
Wenn wir, wie es die marxistischen und die Sozialhistoriker des späten 20. Jahrhunderts taten, von Kapitalismus und Industrialisierung ausgehen, werden wir zwangsläufig feststellen, dass sie die Triebfedern des sozialen Wandels waren. (...) Stattdessen ist es die durch die Wechselwirkungen des politischen, ökonomischen und ideologischen Wandels auf vielen verschiedenen Ebenen erzeugte Verkettung von Veränderungen, die den Schlüssel liefert. Sie erklärt sowohl den großen Unterschied zwischen Europa und Nicht-Europa am Beginn des 20. Jahrhunderts als auch die große Beschleunigung sozialer Konflikte und des sozialen Wandels an seinem Ende.
Anschauliches Bild
Nichtsdestotrotz ist es Christopher Bayly durchaus gelungen, ein anschauliches Bild der Ereignisse von 1780 bis 1914 zu schaffen und tiefe Einblicke in Ökonomie, Politik, Kunst und Religion der damaligen Zeit zu geben. Dass eine solche Darstellung durchaus an ihre Grenzen gerät und oft nicht über den Status von Behauptungen hinausgeht, ist nur allzu verständlich. Genauso nachvollziehbar ist aber die Kritik der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass es für den Leser nicht immer leicht ist, den Erläuterungen des Autors zu folgen; dafür wäre schon ein fundiertes Geschichtsverständnis wie das eines Historikers notwendig. Baylys klare Ausdrucksweise macht aber viel wieder wett, und so bleibt "Die Geburt der modernen Welt" eine lesenwerte Lektüre.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Christopher A. Bayly, "Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914", aus dem Englischen übersetzt von Thomas Bertram und Martin Klaus, Campus Verlag, ISBN 978-3593381602