Die traurige Welt der Schickeria
Die Frühreifen
Das Leben der Schönen und Reichen: Für die Erwachsenen scheint sich alles um Drogen und Sex zu drehen. Ihre Kinder haben reichlich Probleme, aber nicht dieselben wie die Erwachsenen. Dies ist das Milieu, in dem Philippe Dijans aktueller Roman spielt.
8. April 2017, 21:58
Sie haben keine finanziellen Sorgen, die Protagonisten in Philippe Djians Roman "Die Frühreifen". Sie leben in prachtvollen Villen, besuchen ausschweifende Partys, konsumieren reichlich Alkohol und Drogen - und sind alles andere als glücklich.
In der Familie des 14-jährigen Evy hat sich eine Tragödie abgespielt: Evys Schwester Lisa ist vor den Augen ihres Bruders im See ertrunken, aber Evy weigert sich, über das Unglück zu sprechen. Stattdessen träumt er von Unschuld und Reinheit und geht sogar so weit, sich Glassplitter in die Unterhose zu stopfen, damit er den Reizen der begehrenswerten Gaby Gurlitch nicht verfällt.
Abgründiges Sittengemälde
Im krassen Kontrast dazu steht die Welt der Erwachsenen, in der es um nichts anderes als Sex und Drogen zu gehen scheint, in der Träume längst auf der Müllhalde gelandet sind und man sich selbst, seinen Körper und seine Seele bedenkenlos verkauft. Philippe Djian liefert ein bösartiges und abgründiges Sittengemälde - und umso überraschender ist es, dass der Autor es ablehnt, sein Buch als gesellschaftskritisches Werk zu verstehen:
"Ich wollte nicht über ein bestimmtes Problem der heutigen Gesellschaft sprechen", sagt er. "Ich transportiere mit meinen Figuren weder Lösungen noch Urteile. Ich schreibe keine Bücher, um der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten." Und dennoch tut er es, wenn auch unbeabsichtigt.
Suche nach dem Sinn
Die Welt der "Frühreifen" ist hinter der glänzenden Fassade tragisch, düster und verzweifelt. Die Jugendlichen versuchen auf vielfältige Weise, einen Sinn in ihrem Dasein zu finden. Die dicke und unattraktive Anais stellt Evy nach, um Näheres über den Tod seiner Schwester zu erfahren; Gaby Gurlitch genießt bei ihren Altersgenossen den Ruf einer unnahbaren Schönheit, während sie mit deren Vätern schläft, Evys Freund Andreas befindet sich im permanenten Drogenrausch, bis er nach einem Sturz von einem Baum gelähmt zu bleiben droht.
Die Eltern reagieren auf das Treiben ihrer Kinder mit Unverständnis, beinahe schon Ignoranz - wie Evys Vater Richard, ein desillusionierter Schriftsteller, der sich nur manchmal bemüht, den Schein zu wahren.
Ehrlich gesagt war es wirklich nicht einfach, sich für das Tun und Treiben dieser Balgen zu interessieren, es war nicht einfach, ihrer kleinen Welt und ihrem unglaublichen Durcheinander große Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn es sich nicht um Fotos handelte, dann ging es um etwas anderes, irgendeinen Mist, der ihnen gerade durch den Kopf ging oder in die Hände fiel. Manchmal schütteten sie sich eine Schaufel von Glasscherben in die Hose. Oder sie fielen von Bäumen. Oder sie stürzten sich von einer Brücke. Oder sie ertranken. Oder sie verwüsteten Gräber. Ihre Phantasie kannte keine Grenzen, keine Schranken.
Sprache ist wichtiger als Handlung
Für Djian selbst ist der Inhalt seines Buches freilich nicht vorrangig. Ihm geht es um etwas anderes, nämlich um die Sprache. Hinter seinen Büchern stecke niemals eine Idee, sagt er selbst, vielmehr entwickle sich die Handlung durch die stilistische Arbeit. Djians Hang zur stilistischen Feinheit macht die Lektüre nicht immer ganz einfach und mitunter sogar etwas sperrig. Über weite Strecken scheint die Handlung beinahe zu stagnieren, während Djian sich ganz auf Atmosphärisches konzentriert. Diese Vorgangsweise verleiht dem Buch zwar seinen Reiz, hemmt aber mitunter die Dynamik.
So ist es kein Wunder, dass Djian einen ganz speziellen Leser sucht - einen Leser nämlich, der dem Rhythmus des Autors folgen kann: "Ich denke, dass die Leute, die meine Bücher mögen, jene sind, die beim Lesen den gleichen Rhythmus finden wie ich beim Schreiben. Vielleicht treffe ich auf einen Leser, der den gleichen Rhythmus findet wie ich."
Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 7. Jänner 2007, 18:15 Uhr
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Buch-Tipp
Philippe Djian, "Die Frühreifen, aus dem Französischen übersetzt von Uli Wittmann, Diogenes Verlag 2006, ISBN 978-3257065459