Gas und Öl versus Menschenrechte und Demokratie
Quo vadis, Russland?
Nach dem Mord an die regimekritische Journalistin Anna Politkowskaja und dem mysteriösen Tod an Ex-Geheimdienstagent Litwinenko rückt immer mehr die Frage in den Vordergrund, wie es im heutigen Russland um Freiheiten und Menschenrechte steht.
8. April 2017, 21:58
Nach dem Mord an die regimekritische Journalistin Anna Politkowskaja und dem mysteriösen Tod des Ex-Geheimdienstagenten Litwinenko in London wird immer häufiger die Frage gestellt, was ist dieses Russland heute eigentlich für ein Staat? Was haben Putin und seine Gefolgsleute seit 1991 aus dem so hoffnungsfrohen Aufbruch in Demokratie und Freiheit gemacht? Und: Ist der Staatschef wirklich noch Herr der Lage?
Die Organisation Reporter ohne Grenzen hat dazu in Wien einen Abend "In Memoriam Anna Politkowskaja" veranstaltet, unter anderen mit zwei Ex-Kollegen der russischen Journalistin, dem Menschenrechts-Aktivisten Sergej Kowaljow, und Nina Chruschtschowa, der Urenkelin des früheren sowjetischen Parteichefs.
Back to the Roots?
Sergej Adamowitsch Kowaljow war Dissident, verbrachte wegen anti-sowjetischer Aktivitäten sieben Jahre im Arbeitslager und weitere in der Verbannung. Zu Jelzins Zeiten war er bereits Menschenrechtsbeauftragter. Sein Institut für Menschenrechte betreibt er auch heute noch. Er meint, zu Jelzins Zeit habe es noch Pressefreiheit und die Freiheit von Angst vor Repression gegeben Die heutigen Machthaber beförderten das Land zurück in die Sowjetunion. Es sei müßig nach Menschenrechten zu fragen, wenn der Rechtsstaat nicht existiere:
"Russland ist nicht einmal die Föderation, die es zu sein vorgibt. Unser Präsident ernennt die Gouverneure. Dabei ist die föderale Struktur Russlands in der Verfassung verankert, genauso wie die Gewaltenteilung. Aber es gibt keine Gewaltenteilung in Russland! Sie begann sich zaghaft herauszubilden und wurde von Putin restlos begraben. Unser Parlament ist ihm absolut hörig. Es gibt bei uns keine unabhängige Justiz. Die Gerichte sind gehorsam wie in Sowjetzeiten."
Milder Stalinismus
Die Urenkelin des ehemaligen Parteichefs Nikita Chruschtschow, Nina, lebt seit 15 Jahren in den USA. Sie sieht in Putins System weniger eine Diktatur, sondern vielmehr ein Durcheinander: "Stalin, das war Diktatur, mit über 20 Millionen Opfern. Was wir jetzt haben, nenne ich Putinismus. Ein Gemisch aus sehr mildem Stalinismus, und zwar insofern, als Stalin ein starker Mann an der Spitze und Russland eine Großmacht war. In Putins Konzentration der gesamten Macht im Zentrum sehe ich das sowjetische Muster."
Nina Chruschtschowa weist auch auf den Geheimdienst hin, dem mehr als drei Viertel der politischen Elite Russlands angehören: "Geheimdienst bedeutet nicht Recht und Ordnung, wie Putin meint, sondern - das lehrt Russlands Geschichte - Willkür." Nach ihren Worten gibt es zwar nicht die despotische Brutalität der sowjetischen Vergangenheit, aber der Staat ist dank der hohen Öl- und Gaspreise mächtig: "Das meine ich mit Durcheinander." Und das russische Volk trage seines dazu bei, meint sie, denn es liebe Putin. Die Popularitätswerte lägen bei 75 Prozent. Man sei - wie damals - stolz, einer großen, mächtigen Nation anzugehören.
Keine Hilfe vom Staat
Die Journalistin Galina Mursaliewa hat in der Redaktion der "Nowaja Gazeta" sieben Jahre lang das Büro mit Anna Politkowskaja geteilt. Sie betont, als Frau und Mutter habe sie schon lange aufgehört, mit irgendeiner Unterstützung vom Staat zu rechnen: "Irgendeine Hilfe erwartet sich kaum jemand. Und was unsere Rechte betrifft: Sie können in jedem Moment verletzt werden, immer und überall. Das Gefühl, dass man einen Schutz hat, existiert nicht."
Angst, wie man meinen möchte, herrsche in der Redaktion seit Politkowskajas Ermordung eigentlich nicht, erzählt Mursaliewa. Nur Gram und Trauer. Die Panik unmittelbar danach sei vorbei. Aber einsam seien die engagierten Journalisten in den letzten Jahren geworden, auch wenn sich - vor allem im Internet - viel Gleichgesinnte fänden.
Besser Korruption als Armut
Sergej Sokolow ist stellvertretender Chefredakteur der "Nowaja Gazeta" und seit 14 Jahren dabei. Er meint, die Meinungsfreiheit hätten nicht zuletzt die Journalisten selbst kaputt gemacht, weil viele zum korrupten System gehörten. Den Grund dazu liefert er mit den ärmlichen Verhältnissen im Land:: "Ein Durchschnittsgehalt in den reicheren Regionen beträgt heute 250 Dollar, in ärmeren noch viel weniger. Wer bei den großen Massenblättern arbeitet, verdient im Schnitt 2.000 Dollar, beim Fernsehen sind es 6.000. Viele haben darum beschlossen, dass ihnen der persönliche Wohlstand wichtiger ist als ihr Beruf."
Und die Machthaber steuerten das Ganze auf ihre Art, ergänzt Sokolow. Alle wichtigen Massenmedien, die elektronischen und die Presse, würden nach und nach vom Staat übernommen, direkt oder indirekt, über staatliche Konzerne wie Gazprom und andere, sodass unabhängige Medien nicht überleben könnten: "Wenn es eine Zeitung einmal doch schafft, dann wird sie langsam erstickt: Auflagen werden beschlagnahmt, gigantische Summen für irgendwelche Formfehler in Rechnung gestellt oder Klagen aller Art erhoben", beklagt der Journalist.
Öl als Machtmittel
Auf die Person Putins angesprochen, meint Sergej Kowaljow, er kontrolliere das System nach dem Motto: "Macht gebe man weiter und vermehre sie." Mittels seiner Gehilfen kontrolliere er die Geldflüsse im Land. Dank des Öls seien diese enorm. Das Geld fließe aber nicht nur in die Staatskasse, sondern auch in die Taschen hoher Funktionäre, die er ans Ende jeder Ölpipeline gestellt habe.
Diese viel zitierte Pipeline habe auch großen Einfluss auf den Westen, meint Kowaljow weiter: "Jeder eurer Politiker versteht das. Sie sagen: 'Aber das Öl, das Öl!' Das ist für euch der wichtigste politische Faktor. Er vollbringt Wunder. Eure universellen Werte in Europa, wunderbare Werte des Rechts und der Demokratie, bedeuten euch um Vieles weniger als irgendeine elende Pipeline. Ihr versteht, dass Öl enorm wichtig ist. Aber man kann es nicht trinken, und nicht essen - deshalb ist der Verkäufer des Öls ebenso abhängig vom Käufer wie umgekehrt."
Mehr zum Thema Medien in oe1.ORF.at
Wie viel Pressefreiheit ist zumutbar?
Writers in Prison Day 2006
In memoriam Anna Politkowskaja
Anna Politkowskaja, Persona non grata
Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendung "Europa-Journal" vom Freitag, 15. Dezember 2006, 18:20 Uhr, zum Thema "Quo vadis, Russland" nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.
Link
Wikipedia - Russland