Richard Powers' Exkurs in die Neurologie

Das Echo der Erinnerung

Richard Powers liebt es, in seinen Geschichten neueste Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung zu erläutern. In seinem neuen Roman widmet er sich der Neurologie und stellt die Frage nach dem Ich und dessen Reflexion der Umwelt.

Auf einer gewöhnlich völlig leeren, schnurgeraden Autobahn im amerikanischen Bundesstaat Iowa kommt ein 27-jähriger Truck-Fahrer von der Fahrbahn ab und wird im Führerhaus eingeklemmt. Als von Unbekannten herbeigerufene Sanitäter ihn Stunden später finden, ist er bewusstlos. Marc Schluter, das schwer verletzte Opfer, kann - auch nachdem er aus der Bewusstlosigkeit erwachte - keine Hinweise zum Unfallhergang geben. Er hat sein Gedächtnis verloren, sowie die Sprache und die Fähigkeit, Bekannte wieder zu erkennen. Und als er nach Monaten wieder laufen kann, wirkt er wie ein dressierter Bär. Richard Powers berichtet über das Innenleben des Verletzten.

Seine 1.000 Bruchstücke senden und empfangen noch, sie kommunizieren, doch nicht mehr miteinander. Wörter sickern durch seinen Kopf. Mehr Laute als Wörter, (...) Laute zerfließen wie verschüttetes Öl. Wörter rattern in seinem Kopf, ein endloser Güterzug. Manchmal läuft er nebenher und schaut hinein. Manchmal schauen die Wörter heraus und entdecken ihn.

Das Ich infrage gestellt

"Das Echo der Erinnerung" ist ein Neurologen-Krimi, der uns Nichtwissenschaftler aufklären möchte über die alltags-relevanten Erkenntnisse dieser Disziplin. Unbedingt ein Buch mit hohem Fortbildungseffekt. "Es sieht so aus, als würde das Ich gerade von allen Seiten infrage gestellt", so Richard Powers über sein Buch. "Nicht nur von den Neurologen, sondern auch von Wissenschaftlern anderer Disziplinen. Und genau an solchen Stellen muss Literatur aktiv werden, indem sie diese Prozesse menschlicher Neufindung begleitet, spiegelt und zeigt, was wissenschaftliche Entdeckungen für unser alltägliches Leben bedeuten. Gleichzeitig kann Literatur zeigen, wie unverwüstlich das Ich ist."

"Wenn man dieses Buch gelesen hat, möchte man am liebsten nur noch mit Helm durchs Leben gehen", schrieb ein Kritiker über Richard Powers "Echo der Erinnerung". Andere Leser sprechen von einem Gefühl des Selbst-Zweifels, als müsse man danach sämtliche Lebenswahrheiten einer Revision unterziehen.

"Uns selbst gegenüber fühlen wir uns vielleicht wie ein geschlossenes Wesen," so Richard Powers, "aber wenn wir den Hut ein wenig anheben und darunterschauen, dann sehen wir, dass das Ich eher eine Art improvisierter Geschichte ist, eine Geschichte, die permanent verändert wird, eine Geschichte aus vielen kleinen Puzzleteilen, die eigentlich gar nicht so lückenlos und sauber zusammen passen, wie wir uns das gerne weis machen."

Hoffnung auf einen Neuanfang

"Wir leben in einer Welt, die wir uns selber einbilden", ahnte bereits Johann Gottfried Herder, der Kollege und Gesprächspartner Goethes in Weimar. Wie es aussieht, wenn die Einbildungen eines Menschen nicht mehr im Einklang mit denen seiner Umwelt stehen, zeigt Powers an der Entwicklung seines "verrückten" Helden Marc Schluter. Nach anfänglichen Fortschritten entwickelt sich bei ihm das Capgras-Syndrom, eine Form paranoider Wahnvorstellung, die ihn denken lassen, er lebe in einer Kopie seiner früheren Umgebung. Er kann sie als Faktum wiedererkennen, ist aber von seinen früheren Gefühlen für Freunde, Verwandte, sein Haus, seinen Hund abgeschnitten. Deshalb empfindet er sie als Fake, als Horror. Sein Gehirn sucht fieberhaft nach Erklärungen.

Obwohl sich einige Koryphäen der Neurologie für seinen Fall interessieren, darunter ein Dr. Weber, den Powers ganz offensichtlich nach dem Vorbild von Oliver Sacks geschaffen hat, schafft es keiner von ihnen, dieses spezifische kranke Gehirn zu begreifen. Immerhin, sie wissen: Gelingt es Marc, sich aus der Umklammerung seiner Angstvisionen zu befreien, gibt es für ihn Hoffnung auf einen Neuanfang.

Ernüchternde Erkenntnisse in spannender Geschichte

Insgesamt hat Richard Powers in "Echo der Erinnerung" keine erhebenden Neuigkeiten über den Menschen zu bieten. Es ist eher ernüchternd, was die Neurologen entdeckt haben. Richard Powers hat es immerhin gut verständlich in eine spannende Geschichte verpackt. Übrigens war es auch nicht angenehm, dieses Buch zu schreiben, sagt der Autor:

"Während der drei oder vier Jahre Arbeit an diesem Buch fühlte ich mich nicht besonders stabil. Naja, ich schrieb ja auch fünf bis sieben Stunden täglich über einen Mann, dessen Welt zerbricht, dessen Ich auseinanderfällt und der die Menschen in seinem Umfeld auf geheimnisvolle Weise mit Selbst-Zweifeln infiziert. Nachdem ich also den ganzen Tag an dieser Geschichte geschrieben hatte, ging ich abends manchmal auf eine Party. Und da fragte mich jemand: Und ... Wer sind Sie? Und was tun Sie so? Und ich antwortete: Ich bin da auch nicht so sicher!"

Inzwischen ist Powers wieder ok und hat schon, wie er angibt, 25.000 Wörter seines nächsten Romans geschrieben. Wahrscheinlich wird's ein Science-Fiction-Roman über Designer-Babys.

Service

Richard Powers, "Das Echo der Erinnerung", aus dem Englischen übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, S. Fischer Verlag