Geographie der Besonderheiten

Kematen ist nicht New York

Ein kleiner Industrieort in Niederösterreich hat in den 60er Jahren seine Straßen durchnummeriert - ähnlich wie New York. Seitdem wird Kematen an der Ybbs fälschlich mit New York in Verbindung gebracht. Das Porträt eines Ortes, der anders ist.

Nehmen wir an, man fährt auf der Westautobahn von Wien nach Kematen an der Ybbs, Abfahrt Amstetten West. Ab sofort Birnenattackengefahr!!! Beim ersten Kreisverkehr muss man um eine riesige Mostbirne herum, beim nächsten glaubt man, hässlicher geht's nicht mehr, beim so genannten "Weißen Kreuz" macht eine Birne auf Kunst und mitten in ein virulentes Birnendelirium hinein fällt die verzweifelte Frage: Was hat das mit Kematen zu tun?

Nach der Birnentortur während der Anfahrt auf der Bundesstraße 121 heißt diese plötzlich "Heide Nr.1" und schließlich nur mehr Nr. 1, dann sind sie in Kematen.

Straßennummern wie in Manhattan

Beinahe jeder Passant in Kematen erzählt, dass in den 70er Jahren der damalige Bürgermeister Walter Baumann in New York auf Urlaub war und mit der Idee zurück kam, die Straßen in der Gemeinde zu nummerieren.

"Ein typische Zeitungsente, wie sie seit dem ersten Tag der Aufstellung der Straßennummerntafeln von den Reportern in jährlichen Zyklen kolportiert wird", amüsiert sich der 80-jährige, äußerst agile Altbürgermeister: "Dabei stimmt alles nicht. In New York war ich erst dreißig Jahre später. Und dass uns nicht genug Namen eingefallen sind, das ist auch ein Unfug."

Pragmatische Überlegungen

Es waren zwei pragmatische Überlegen - im Jahr 1967 übrigens -, die zur den Nummern führten. Einerseits wollte der gewiefte Walter Baumann sich nicht dem ortsüblichen Spiel der Eitelkeiten aussetzen, wo sich bedeutende Persönlichkeiten aus allen politischen Lagern in einem Straßennamen verewigt sehen wollen.

Anderseits war man damals in der glücklichen Lage, einen der ersten Flächenwidmungspläne des Landes zu erstellen. Am Plan waren alle Straßen vorerst nummeriert, auch viele, die es noch gar nicht gab. Und die spezielle Lage des Ortes, eine Hauptstraße und die Nebenstraßen rechtwinkelig wegführend waren für eine besondere Variante prädestiniert. Sowohl der Gemeinderat als auch die Bevölkerung stimmten ohne Vorbehalt zu.

Zahlenspielereien à la Kematen

"Schnapsen" ist in den Wirtshäusern von Kematen beliebter Freizeitsport. Während dem "Zwanzger" ansagen und dem Stiche zählen erfährt man so en passant woran man Kematen erkennt. An den drei "B": "Wir haben drei Bäcker, drei Banken und drei Puffs", erklärt einer der Kartenspieler, "vielleicht deshalb der Vergleich mit New York".

2462 Einwohner hat der 11 Quadratkilometer große Ort. Die Häuser der Freude werden natürlich von Auswärtigen frequentiert, beteuert der Kartenspieler und teilt die Karten für die nächste Runde aus.

Die Papierfabrik

Zur Industriegemeinde wurde der Ort durch den Bau einer Papiermühle im Jahre 1882. 1918 wurde die "Papierfabrik" in die "Neusiedler AG" eingegliedert, war lange Zeit der bedeutendste Arbeitsgeber der Gegend und sorgte für rege Zuwanderung. Seit 2004 trägt das Unternehmen den Namen "Mondi Business Paper Austria AG", integriert in die südafrikanische "Mondi"-Gruppe.

Rationalisierungsmaßnahmen und die Modernisierung der Arbeitsabläufe sorgten für eine wesentliche Verringerung der Mitarbeiter. Mit 175 Beschäftigten in der Papierfabrik und 48 in der Zelluloseerzeugung ist Mondi auch heute noch ein wichtiger Arbeitsgeber für den Standort Kematen, erklärt der Managing Direktor Karl Grill.

Umweltschonende Biokläranlage

"Pushing to the limits" ist die Erfolgsdevise des Unternehmens. Wobei Karl Grill betont, dass er darunter nicht nur Produktionssteigerung verstehe. Dazu gehören auch hohe Sicherheitsstandards und zum Beispiel eine umweltschonende Biokläranlage.

Weil dadurch in der Ybbs auch unterhalb der Papierfabrik eine sehr gute Wasserqualität herrscht, war es möglich, ein modernes Strandbad am Fluss zu errichten.

Politischer Erdrutsch

Die Sorge um die Umwelt war in Kematen schon einmal Streitthema. Ab 1991 gab es heftige Bürgerproteste gegen den Bau einer Alu-Schmelze in der zum Gemeindegebiet gehörenden Forstheide. Man befürchtete eine gesundheitsgefährdende Dioxinbelastung. In der Folge verlor die mit einer Zweidrittelmehrheit dominierende SPÖ 1995 schließlich ihre Vorherrschaft an die ÖVP.

Ein paar Zahlen zur Verdeutlichung des politischen Erdrutsches: 882 Stimmen bekam die ÖVP bei der Gemeinderatswahl 2005, die SPÖ nur 748. Umgekehrt das Ergebnis bei Nationalratswahl 2006: 808 Stimmen für die SPÖ stehen 452 für die ÖVP gegenüber. So unterschiedlich können Kommunalpolitik und Bundespolitik von den Wählern honoriert werden.

Wo bleibt der Most?

Jenseits des Gewerbeparks und der zahlreichen Geschäfte an der Straße Nr. 1, für den Durchreisenden verborgen, findet man auch werbewirksames Mostviertelflair. Zahlreiche kleine, zur Gemeinde gehörende Dörfer, oft nur aus mehreren Häusern bestehend, findet man Biobauern, Mostheurige und die Birnenbäume, die bei der Anfahrt so monumental angekündigt wurden.

Im Frühling lädt der 11 Kilometer lange "Schneerosenweg" zum Wandern ein und im Mai blühen die Bäume. "In Kematen lässt es sich leben", sagen die Kematner.

Hör-Tipp
Moment, Donnerstag, 30. November 2006, 17:09 Uhr

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Gemeinde Kematen