Die leichte Unerträglichkeit des Seins
Beautiful losers
Je älter der Kritiker wird, umso jünger werden die Autoren. Irgendwann sind die alle um die Dreißig und sehen aus wie frisch geschlüpft, wissen nichts von Ayatollah Khomeini und machen die Frau des Kritikers schwach. Um nicht zu sagen: verführbar.
8. April 2017, 21:58
Wenn man an einem Wiener Würstelstand vorbeigeht, dann selten im Bewusstsein, dass dieser über eine Geschichte verfügt. Er ist einfach da, war schon immer da, und was das Angebot betrifft: was soll sich da schon ändern? Zum Wesen des Würstelstands gehört seine Veränderungsresistenz. Wer zum Würstelstand geht, der will eine Bratwurst oder einen Hot Dog, jetzt, morgen und in zwanzig Jahren. Ein Würstelbrater ist schließlich kein Haubenkoch, der sich einen goldenen Kochlöffel verdienen will. Obgleich der französische Schriftsteller Romain Gary davon berichtet, dass er am Sunset Strip in Los Angeles einmal drei Fuckburger gegessen habe, aus purer Neugier. Danach habe er einen Profikiller engagiert, der ihn, also den Auftraggeber, umlegen sollte.
Ich kenne einen Würstelstand auf der Mariahilfer Straße, die nicht einmal als Parodie auf den Sunset Strip durchgeht, der hat sich von einem Tag auf den anderen verändert. Nicht dass er die Farbe gewechselt hätte oder mit neuen Kreationen aus der Fritteuse aufwarten könnte. Nein, der Würstelstand kommuniziert mit den Menschen, die an ihm vorübergehen. Der Würstelstand, richtig, und nicht etwa der gesichtslose Mensch, der ihn sommers und winters bewohnt. Er stehe jetzt schon 27 Jahre auf ein und demselben Fleck, sagt der Würstelstand, es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, doch fünf, die sich lieben, die bleiben sich treu.
Kein schlechtes Rätsel, was? Fünf, die sich lieben? Ich habe nachgefragt und erfahren, dass damit die Blechbude und die vier an je einer Ecke der Bodenplatte vernieteten rostigen Stelzen gemeint sind, die sich seit Jahr und Tag im Mariahilfer Grund festbeißen. Keine Chance für die berüchtigten Wiener Winterstürme und die heißen Winde von unter Kreativitätsdurchfall leidenden Bezirkspolitikern. Irgendjemand hat den Abschnitt, auf dem der Würstelstand seit 27 Jahren den Hademar Bankhofers dieser Welt trotzt, Straße der Sieger getauft. Den Hunden ists egal, sie erleichtern sich, wo es dem Unterleib genehm ist. Wie übrigens auch der eine oder andere nächtliche Kunde des Würstelstands. Der Wiener hat ein bekanntermaßen entspanntes Verhältnis zu Exkrementen, da ist die Welt seit ihrer Erschaffung im Arsch daheim.
Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai. Der Würstelstand klingt, als würde auch er am liebsten einen Killer auf sich selbst ansetzen.
Man muss sich das einmal vorstellen: vor 27 Jahren ist Ayatollah Khomeini aus dem Exil in den Iran zurückgekehrt und hat die islamische Republik ausgerufen (striktes Fuckburgerverbot!). Leonid Breschnew und Jimmy Carter haben sich in Wien auf die Schulter geküsst (du falscher Fuckburger du!). In Harrisburg, Pennsylvania ereignete sich der bis dahin schwerste Zwischenfall in einem Atomreaktor (no comment!). Larry Holmes wurde Boxweltmeister im Schwergewicht (Doublefuckburger!). Peter Frankenfeld und Rudi Dutschke sind gestorben (Fuck the Bürgers!). Pink Floyd haben sich mit The Wall lächerlich gemacht und The Clash mit London Calling den Punk endgültig verraten (Fuck!!!). Kennt noch irgendjemand diese Leute?
Vor 27 Jahren stand ich kurz vor der Matura. Heute lese ich in Fred Uhlmans Erzählung "Der wiedergefundene Freund" diese Sätze:
Noch immer höre ich die müde, enttäuschte Stimme von Herrn Zimmermann, der, lebenslänglich zum Lehren verurteilt, sein Schicksal in trauriger Ergebenheit trug - ein Mann mit bleichem Gesicht, ergrauendem Haar, der durch seinen auf der Nasenspitze sitzenden Zwicker in die Welt hineinblickte wie ein herrenloser Hund auf Futtersuche.
Ich fühle mich unwohl, wenn ich so etwas lese. Bist du das? rufe ich in den Zimmermannschen Weltinnenraum hinein. Hast du dafür den Kalten Krieg und eine Kärntner Kindheit überlebt? Oder muss ich auch schon einen Profi engagieren, der den rostigen Stelzen meiner Existenz, um es ein wenig pathetisch zu formulieren, den Garaus macht?
Ich hinterließe eine Frau und null Kinder. Meine Frau hatte vor 27 Jahren gerade mal vier Geburtstage hinter sich gebracht. Sie hat, wie Sie sich denken können, auch heute noch keinen Grund, sich alt zu fühlen. Das ist gut für sie aber mir bereitet auch dieser Umstand Kopfzerbrechen. Denn im Leben eines jeden Kritikers kommt der Moment, in dem seine Frau ein Verhältnis mit einem Autor hat, von dem gerade ein neues Buch erschienen ist. Die Sache ist die: je älter nämlich der Kritiker wird, desto jünger werden die Autoren. Irgendwann sind die alle um die Dreißig und sehen aus wie frisch geschlüpft und wissen nichts von Ayatollah Khomeini und Rudi Dutschke und Pink Floyd. Und man selbst braucht schon eine Lesebrille, um sich durch die Textmassen zu arbeiten, die sich vor einem auftürmen wie ein Montafoner Schneebrett, das jederzeit abzubrechen und eine Lawine auszulösen droht. Und ehe man vor Angst zynisch wird und sich mit einem Verriss ein wenig Lebenssicherheit zurückzuerobern versucht, ist man auch schon eingeschlafen und träumt von der Straße der Sieger, die direkt im eigenen Herzen mündet.
Mein Chefredakteur Mr. Wannabee (I wannabe rich, I wannabe famous, I wannabe retired) ist der Meinung, dass seit John Updike der Partnertausch zum intellektuellen Pflichtprogramm gehöre. Für ihn hat Literatur etwas mit Lebenspraxis zu tun, Henry Miller zu lesen ohne wie Henry Miller zu sein - zumindest für einige Augenblicke - hält er für Ressourcenvergeudung. Eine ausgeprägtere Swingerclubmentalität stünde mir gut an, sagt Mr. Wannabee, die würde sich auch positiv auf meine Gesichtsfarbe auswirken.
Chef, sage ich, wenn Sie mir eine Kugel ins Herz jagen wollen, dann tun Sie mir nicht weh, zielen Sie gut. Ich bin kein alternder Würstelstand auf der Straße der Sieger.
Mr. Wannabee klopft mir auf die Schulter. Apropos, sagt er. Auf der Mariahilfer Straße gibts ein neues Bistro, dort wo immer so eine blecherne Altfettschleuder herumgestanden ist. Dort gibts den besten Fuckburger der Stadt. Ich lade Sie ein. Dann sprechen wir einmal. Von Mann zu Mann.