Ein Porträt der krankhaften Willenlosigkeit
Unentschlossen
Der US-Autor Benjamin Kunkel stellt ein häufig auftretendes Phänomen der Mittzwanziger und -dreißiger in das Zentrum seines neuen Romans: Die krankhafte Willenlosigkeit, die chronische Unentschlossenheit, verkörpert von einem New Yorker Akademiker.
8. April 2017, 21:58
Angenommen es gäbe ein Mittel gegen chronische Unentschlossenheit, gegen dieses nicht Wissen was man tun soll, gegen Zögern und Zaudern - angenommen man müsste täglich eine Pille schlucken und hätte die klare Entscheidungskraft - würden wir nicht alle jemanden kennen, der das dringend einnehmen sollte? Oder wären wir das möglicherweise sogar selbst? Benjamin Kunkel trifft mit seinem Debüt "Unentschlossen" ein gegenwärtiges Bedürfnis.
Zum Interview erscheint der 33-Jährige mit einem dieser üblichen "I love New York" T-Shirts. Einziger Unterschied - bei ihm steht da "I kinda love New York". Damit ist die Unentschlossenheit schon bestens dargestellt. Die Unentschlossenheit, die gerade in der Generation der Mittzwanziger und -dreißiger in den USA und in Europa häufig auftritt und die auch im Zentrum des Bestsellers "Unentschlossen" steht.
Teilnahmslos bis lethargisch
Der Protagonist, Dwight Wilmerding, hat ein abgeschlossenes Philosophiestudium, aber einen Job, der gar nichts mit dem Erlernten zu tun hat - er ist beim Pharmakonzern Pfizer im Technical Support tätig. Teilnahmslos, passiv, politisch uninteressiert, ja fast lethargisch lebt der 28-Jährige in den Tag hinein.
Ein Dahinleben wie das eines Teenagers, finanziert von den Eltern, was das Ganze nicht besser macht und eher früher als später zur Midlifecrisis führt. Man trinkt immer wieder zuviel, nimmt auch gern mal Drogen, Verantwortung hingegen übernimmt man lieber nicht. All das aber mit einer überordentlichen Portion Egoismus und keinem Gedanken an das, was kommen wird:
Ich konnte erst an die Zukunft denken, wenn ich dort angekommen war.
Hinzu kommt die krankhafte Willenlosigkeit, die chronische Unentschlossenheit, kurz Abulie, genannt. Die zeigt sich im banalen Alltag - etwa welchen Bagel er kaufen soll - um dann auf eine Hälfte Schokoladecreme, auf die andere Pesto zu schmieren, oder in den doch gewichtigeren Dingen - soll er mit der Frau, mit der er beinahe jede Nacht verbringt, eine Beziehung eingehen oder ein lockeres Verhältnis weiterspielen?
Mittelmäßigkeit akzeptieren?
Freiheit und Klarheit sucht Dwight in den Thesen von Martin Heidegger, der unter dem Pseudonym Otto Knittel erscheint. Einerseits liest Dwight also Heidegger bzw. Knittel, andererseits wirft er Münzen, um Entscheidungen zu treffen. Immer nach Höherem streben oder Mittelmäßigkeit akzeptieren? Zweiteres ist sicher einfacher und Dwight fragt sich, ob der der Weg zum Glück ist.
Nachts mochte ich ein schlechtes Gewissen haben, weil ich mich in meiner Mittelmäßigkeit so gut eingerichtet hatte - doch wenn ich vor meinem Terminal saß und mich auf meinem serienproduzierten Bürostuhl leicht hin und her drehte, dann hatte ich irgendwie das Gefühl, wenn ich diesen opportunistischen, amerikanischen Job, den irgendwer ja schließlich machen musste, nur weiterhin mit dem angemessenen Eifer erledigte, dann war alles, was mit mir oder mit meinem Land passierte, nicht mehr meine Schuld.
Pillen für Entscheidungsfähigkeit
Eines Nachts offeriert ihm sein WG-Freund Dan einige Pillen, die er aus dem Labor mitgebracht hat. "Abulinix" heißt das Zaubermittel und soll gegen den Verlust der Entscheidungsfähigkeit helfen. Es ist noch nicht wirklich getestet, Dwight könnte einer der Probanden sein. Und wird das natürlich auch umgehend.
Das Seltsame an der Entscheidungsfreiheit ist vielleicht, dass niemand etwas mit ihr anzufangen weiß, bevor er sie anderen überlässt.
Fortan sucht Dwight nach ersten Ergebnissen dieses Medikaments. Die erste große Entscheidung führt ihn nach Ecuador, zu einer ehemaligen Klassenkollegin. Mit dem Anflug auf Bogota beginnt dieser moderne Bildungsroman, der mit intelligentem Humor überzeugt.
Einsicht und Erleuchtung
Während Dwight durch den Dschungel reist, auf der ständigen Suche nach klarer Einsicht und Erleuchtung, erzählt er von seinem New Yorker Leben. Und auch wenn Benjamin Kunkel auch in New York lebt, autobiographisch sei "Unentschlossen" keineswegs. Im Gegenteil, seine eigene Sichtweise habe er beim Schreiben unterdrücken müssen.
Kunkel selbst sieht sich eher als Gegenposition seines Protagonisten. Er habe immer schon gewusst, dass er schreiben wolle und sei auch sonst entscheidungsfreudiger als Dwight.
Umso heller dann die Erleuchtung von Dwight, die ihn letztendlich doch einsichtig, vernünftig und politisch werden lässt. Aber genau die ist möglicherweise für europäische Leser nicht ganz nachvollziehbar. Da ist ein bisschen zuviel von allem. Aber vielleicht ist es gerade das, was den Hollywood-Produzenten Scott Rudin dazu veranlasst hat, die Filmrechte von "Unentschlossen" zu kaufen, noch bevor das Buch überhaupt erschienen war.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendung nach Ende der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.
Buch-Tipp
Benjamin Kunkel, "Unentschlossen", aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Röder Bloomsbury Berlin Verlag, ISBN 3827006805