Ein Gespräch mit dem Sozialexperten Martin Schenk
Unterschichtsdebatte in Österreich
Der Armutsbegriff sieht nicht nur Einkommen, sondern auch die bedrückende Lebenssituation. Das ist das große Missverständnis in der öffentlichen Debatte: Die Kombination aus beidem macht den Begriff Armut relevant. 460.000 sind in Österreich betroffen.
8. April 2017, 21:58
Michael Kerbler: Herr Schenk, existiert für Sie eine Unterschicht in Österreich?
Martin Schenk: Ja und nein.
Ja insofern, als es in Österreich zunehmend eine Gruppe gibt, die - wenn man sich die Gesellschaft vorstellt wie ein Modell, in dem es oben und unten gibt, wie ein Haus mit Stockwerken - die Stufen nach oben schwer bewältigen kann. Nein, weil der Unterschichtsbegriff aus einer bestimmten ideologischen oder auch soziologischen Richtung kommt.
Der Begriff entstammt einer Debatte in den 1970er, 1980er Jahren und sagt zum einen aus, dass es eben nicht mehr nur Milieus gibt. Die lange Debatte damals in der Soziologie ging darum, dass es künftig nur mehr Milieus geben wird, nur mehr Lebensstile: Wir unterscheiden uns nur mehr dadurch, welche Musik wir hören, ob wir Blasmusik hören oder lieber FM4 aufdrehen; ob wir weiße oder schwarze Socken tragen; ob wir im Trachtenanzug kommen oder im Anzug. Und dadurch unterscheiden wir uns, können uns von den anderen differenzieren und Milieus ausbilden.
Jetzt zeigt sich aber, dass das ein bisschen eine Illusion war, dass wir uns nicht nur durch Lebensstile unterscheiden, sondern auch durch Schichten. Durch ökonomische Ausstattung. Durch Geld. Und durch Macht und Ohnmacht, die an dieses Geld gekoppelt sind. Deshalb stimmt "Unterschicht", weil es sagt: Es gibt oben und unten; es gibt Macht und Ohnmacht.
Wenn man von "Unterschicht" oder von der "Fürsorgeklasse" oder von der "Armutsbevölkerung" oder von "sozial Schwachen" spricht, meint man immer eine Gruppe von Personen, die in einer Lebenssituation ist, die auf's Erste gesehen weniger verdient, jedenfalls Unterhalt eines bestimmten Betrags, der als Armutsgrenze definiert ist. In Österreich liegt das ungefähr bei 850 Euro. Wie viele Menschen sind eigentlich arm in Österreich?
Der Armutsbegriff hat eine etwas andere Herangehensweise als der Unterschichtsbegriff.
Der Unterschichtsbegriff - so wie er jetzt diskutiert wird - zielt stärker auf soziokulturelle Zusammenhänge ab: Wie schaut der Lebensstil der Betroffenen aus, die da unten leben? Der Armutsbegriff verbindet Einkommen - also nichts haben, wenig haben, kein Geld haben - mit bedrückenden Lebenssituationen.
Wenn man nun diese beiden Dinge verbindet - also wenig Geld haben, weniger als 850 Euro (die meisten haben weit weniger, um die 500 Euro) - und es kommen bedrückende Lebenssituationen dazu - man kann die Wohnung im Winter nicht beheizen; man kann abgetragene Kleidung der Kinder nicht ersetzen, es liegt Überschuldung vor, es liegt chronische Krankheit vor - dann spricht man von manifester und akuter Armut. Und das sind 460.000 Menschen in Österreich.
Bei allem bitteren Beigeschmack war diese Unterschicht-Debatte insofern hilfreich, als sie erneut auf diese Armut, die es auch in Österreich gibt, aufmerksam macht. Ich hab's erst beim dritten Mal Hinschauen geglaubt: Akut arm sind in Österreich - Sie haben's gesagt - 460.000 Menschen. Im Dezember 2003 waren es noch 300.000 Menschen. Was, Herr Schenk, ist passiert, dass innerhalb von drei Jahren 160.000 Menschen arm geworden sind, also unter 850 Euro im Monat zur Verfügung haben?
Zum einen ist es die Statistik, und zum anderen sind es reale Veränderungen in der Gesellschaft. Die Statistik, die man hier heranzieht, ändert sich ständig in den Berechnungsmethoden. Also man kann jetzt nicht genau diesen Unterschied als Anstieg benennen, aber man kann sagen, es gibt in jedem Fall einen Anstieg.
Wie hoch dieser jetzt genau ist, da ist die Statistik leider sehr ungenau. Auch deshalb, weil in diesen Daten - die einzigen, die wir haben - nur Privathaushalte gezählt werden, das heißt alle Leute, die in einem Obdachlosenheim wohnen, in einer Psychiatrie, in Wohngemeinschaften, im Frauenhaus, im Mutter-Kind-Heim oder auch in Pflegeheimen (weil viele Armutsbetroffene, wenn sie alt sind, auch über Sozialhilfe in Pflegeheimen wohnen), die sind da gar nicht erfasst.
Sie vermuten, dass es noch mehr ist?
Ich vermute, ja. Und die Bildung von Zeitreihen ist relativ schwierig, weil sich eben die Berechnungen ändern. Aber wir sehen andere Indikatoren, besonders den Anstieg in der Sozialhilfe, aber auch den Anstieg in den Sozialberatungsstellen, dass sich da was tut.
Ich glaube, es gibt drei Dinge, die für den Anstieg ausschlaggebend sind. Der Hauptgrund ist der Anstieg von prekären und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. Wir haben in den Beratungsstellen, aber auch in der Sozialhilfe den größten Anstieg bei Menschen - Frauen, Männern, Frauen mit Kindern -, die zwei, drei, vier Jobs haben; trotzdem bringen diese Jobs so wenig Geld ein, dass sie nicht genug zum Leben haben. Working poor ist ein Phänomen, das man eher aus Nordamerika, aus England kennt, das aber offensichtlich jetzt auch nach Mitteleuropa kommt. Ende der 1990er Jahre hat das ganz leicht begonnen und ist jetzt rasant angestiegen.
Der zweite Punkt ist, dass sowohl junge Leute beim Berufseinstieg zunehmend Schwierigkeiten haben, in den Beruf rein zu kommen: entweder wegen fehlender Ausbildung, weil sie selbst Defizite haben, oder weil es einfach keine Lehrstellen oder zu wenig Jobs gibt. Oder man ist nach dem Uni-Abschluss zehn Jahre lang Dauerpraktikant, trotz Magister und Doktor. Oder aber am Ende der Erwerbsbiografie, ab 55, wenn da einmal ein Job verloren geht, ist es wahnsinnig schwer, wieder einen Job zu finden. Diese zwei Gruppen steigen auch massiv an.
Und das Dritte - ich beobachte es sowohl in den statistischen Daten, als auch in den Beratungsstellen - ist der Anstieg psychischer Beeinträchtigung, psychischer Behinderung, psychischer Erkrankung. Und besonders: Erschöpfungszustände. Also Formen der Depression. Vorstufen der Depression. Ich erkläre mir das so, dass das auch zu tun hat mit einem gewissen Stress, mit einem Druck, den manche aushalten und mache eben nicht.
Hör-Tipp
Im Gespräch, Donnerstag, 23. November 2006, 21:01 Uhr
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Buch-Tipp
Armutskonferenz, Attac und Beigewum, "Was Reichtümer vermögen. Warum reiche Gesellschaften bei Pensionen, Gesundheit und Sozialem sparen", Mandelbaum Verlag, ISBN 3854761287
CD-Tipp
"Im Gespräch Vol. 7", ORF-CD, erhältlich im ORF Shop
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