Protokolle der Befindlichkeiten

Rehe am Meer

Sein Thema war und ist die Mystik des Alltags: Ralf Rothmann beschäftigte sich in seinen Werken mit dem kleinbürgerlichen und proletarischen Milieu. In seinem neuen Kurzgeschichteband protokolliert er Situationen geprägt von Einsamkeit und Hoffnung.

Ralf Rothmann über das Schreiben

"Schreiben, in deutscher Sprache dichten, das ist nicht erst seit der Rechtschreibreform ein bisschen wie Tangotanzen in Gummistiefeln", meinte Ralf Rothmann in seiner Dankesrede zur Verleihung des Heinrich-Böll-Preises im Dezember des Vorjahres. Nun, man könnte sagen, der 53-jährige deutsche Schriftsteller macht durchaus eine elegante Figur beim Gummistiefeltanz. Sein Thema war und ist die Mystik des Alltags.

In mehreren Romanen und Erzählbänden beschäftigte er sich auf zumeist warmherzig-poetische Weise mit dem kleinbürgerlichen und proletarischen Milieu. So auch in seinem neuen Band mit Kurzgeschichten, die Momentaufnahmen aus dem Leben der so genannten "kleinen Leute" zeigen.

Ohne jede Eile gingen die Tiere hintereinander über den Strand. Die lange Reihe ihrer Hufabdrücke wurde schon wieder verweht, und nur manchmal blickte sich eines von ihnen um oder schnupperte im Schnee.

Eine Frau beobachtet Rehe am winterlich verschneiten Strand. Sie will sich um einen neuen Job bewerben und überlegt, wo sie ihre kleine Tochter während des Termins unterbringen könnte. Mit ihrem alten, rostigen Wagen fährt sie durch die von Schneematsch bedeckte Landschaft. Raus aus der Stadt zurück ins Dorf, in dem sie einmal gelebt hat, zu Frau Lohan, der lieben alten Dame, die schon früher gerne auf ihre Alina aufgepasst hat. Dort muss es aber auch raus, das bisher verschwiegene Geheimnis.

"Es gibt noch einen Termin mit den Anwälten. Aber dann geht's vor Gericht."
Sie nickte kaum merklich und fuhr sich durch die Haare, ganz vorsichtig, wie es ältere Frauen tun. „Ach, Kindchen... Das ist alles so traurig, oder? Aber vielleicht haben Sie ja recht. Wenn ich an meinen ollen Blubberkopp denke! Über vierzig Jahre waren wir zusammen, und manchmal wäre es wirklich einfacher gewesen, sich zu trennen. Aber dann ist es plötzlich zu spät."


In den insgesamt zwölf kurzen Erzählungen taucht Rothmann abrupt ein in den Alltag seiner Protagonisten und protokolliert deren Befindlichkeiten, geprägt von Einsamkeit, Abschied, Unterdrückung, Hoffnung oder Verwirrtheit.

Ein zwölfjähriges Mädchen, das sich nach dem Tod der Mutter für den jüngeren Bruder ebenso verantwortlich fühlt wie für den arbeitslosen Vater, und sich zudem noch den Anzüglichkeiten eines Bekannten ausgesetzt sieht; eine allein erziehende Krankenschwester aus dem Osten, die im Sommer ihr ganzes Haus an eine junge Familie aus dem Westen vermietet, und mit ihrem ständig nörgelnden Sohn im Garten kampiert; eine junge Frau, die zeitig in der Früh ihrer Schwester am Telefon mit berührender Zärtlichkeit vom Sterben ihres Mannes erzählt; oder ein Maurer, der seinen Chef bei einer nächtlichen Verwüstungsaktion auf der eigenen Baustelle ertappt. Der Boss glaubt, einen Fertigstellungstermin nicht einhalten zu können, und der treue Arbeiter unterstützt ihn dann aus Solidarität bei der Zerstörungsorgie.

Nu mach, Manni! sagte ich mir. Manni, mach! Und während wir die Seifenschalen und die Armaturen aus den Kacheln brachen, während wir Lampen und Kabel aus dem Putz rissen und Löcher in die Wanne und den Lamellenschrank traten, sahen unsere Schatten an den Wänden aus, als gehörten sie nicht zu uns. Als würden das ganz andere tun.

Scheinbar zufällig bricht man in Rothmanns Erzählungen unvermittelt ein in eine beliebige Alltagssituation, und nach drei, vier Sätzen ist man schon mittendrin im Leben. Die distanziert, aber niemals kaltherzig beschriebenen Menschen haben eigentlich wenig gemeinsam, außer dass sie nie wirklich glücklich sind. Irgendetwas nagt an ihnen, Entscheidungen müssen getroffen werden, Hilfe wird gesucht, dem schon erlebten Glück wird nachgetrauert. Man spürt, dass diese Welten und Situationen dem Autor keineswegs fremd sind.

Ralf Rothmann arbeitete vor seiner Schriftsteller-Karriere als Maurer, Koch, Drucker und Taxifahrer. Seine Kunst kann man nicht besser beschreiben, als es in der Festrede für den diesjährigen Max-Frisch-Preis geschehen ist. Dort heißt es, es handle sich um einen "scharfsichtigen Erzähler, der mit Güte, Grimm und Gerechtigkeit den geringsten Dingen Gewicht und dem Leben unscheinbarer Menschen Fülle und Würde verleiht".

Wunderbar gelungen ist ihm das auch in der letzten Erzählung des Bandes. "Der ganze Weg" ist die Geschichte eines Zirkushelfers, der die Misshandlungen der Tiere nicht mehr erträgt und kurzerhand mit seinen Lamas flüchtet.

Die fanden das richtig gut, sprangen rum und jagten sich, knabberten an dem Grünzeug, das sie nicht kannten, und blieben doch in meiner Nähe; nur Tim, der doofe Pullover, der wäre fast mal auf die Autobahn gerannt. Da mußte ich kurz brüllen.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 17. November 2006, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 19. November 2006, 18:15 Uhr

Mehr dazu in Ö1 Programm

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Buch-Tipp
Ralf Rothmann, "Rehe am Meer", Suhrkamp Verlag, ISBN 3518418254