"Neues" aus der Bayreuther Vergangenheit
Vom Trichter zur DVD
Ein Bayreuth-Mitschnitt von Wagners "Ring des Nibelungen" aus dem Jahr 1955 unter Joseph Keilberth feiert Auferstehung. Selten war Wagner-Geschichtsunterricht so spannend. Tonaufnahmen aus Bayreuth gibt es schon seit weit über 100 Jahren.
8. April 2017, 21:58
Die heurige Bayreuther Neuinszenierung von Richard Wagners "Ring des Nibelungen" kam exakt 130 Jahre nach der ersten Komplettaufführung der "Ring"-Tetralogie am "Grünen Hügel".
Weit über 100 Jahre alt ist nun schon die Geschichte von Tonaufnahmen aus Bayreuth und mit Bayreuther Gesangssolistinnen und -Solisten. Und auch sie hat heuer unerwarteten Neuzugang bekommen.
Der erste "Stereo"-Ring kam aus Bayreuth
Denn: Was da die Toningenieure der britischen Plattenfirma DECCA im Sommer 1955 bei den Bayreuther Festspielen aufnahmen, war gedacht als der erste Stereo-"Ring" der Schallplattengeschichte - bloß hat ihn seither außer Eingeweihten niemand zu hören bekommen, worauf dieses Etikett dem wenig später in Wien begonnenen Studio-"Ring" unter Georg Soltis Leitung angeheftet werden konnte.
Eine bizarre Episode aus dem damaligen Wettlauf von Columbia und DECCA um die besten Bayreuth- und überhaupt Wagner-Aufnahmen, um Marktvorteile in der Ära der frühen Langspielplatte und dann der frühen Stereophonie. Und eine interessante Facette im jetzt schon weit über 100-jährigen Kapitel: "Bayreuther Tondokumente".
Trichter, Walzen, DVDs
Sie reicht von Editionen mit frühen Walzen- und Trichteraufnahmen von Bayreuther Solisten über die Wiedergabe von Klavierwalzen, auf denen das Wagner-Spiel der ersten Bayreuth-Dirigenten festgehalten wird, bis zu CD- und DVD-Editionen wichtiger Ereignisse der Ära Wolfgang Wagner, sei es der 1976 gestartete "Jahrhundertring" von Patrice Chereau (Regie) und Pierre Boulez (musikalische Leitung), sei es die spätere Version von Harry Kupfer und Daniel Barenboim.
Wer es wagt, ins "Nibelheim" der Aufnahmetechnik hinabzusteigen, erlebt manchmal bedenkliche Gesangsleistungen, manchmal auch die zugespitzte Wort-Artikulation, die seit George Bernhard Shaw als "Bayreuth bark" (Bayreuther Bellen) gilt, manchmal aber auch genau den Wagner-Gesang aus dem Geist des Belcanto, der dem Komponisten als sein Ideal galt.
Wagemutige Pioniere
Wenn seit den 1960er Jahren die großen Plattenfirmen ihre Bayreuth-"Mitschnitte" veröffentlichten - von Karl Böhms "Tristan und Isolde" bis zum erwähnten "Jahrhundertring" -, so handelte es sich dabei in Wahrheit um ein Mittelding zwischen "live" und Studio-Produktion: aktweise Durchläufe vor Mikrophonen und so gut wie leerem Haus.
Kurios, dass gerade die Pioniere viel wagemutiger waren: Der in diesem Jahr erstveröffentlichte erste Stereo-Ring aus Bayreuth, DECCA 1955, mit Joseph Keilberth am Dirigentenpult wurde nach ein paar Mikrofon-Aufstellungsproben 1:1 auf Band festgehalten, mit allen Unwägbarkeiten, mit allen Publikumsreaktionen, mitunter mit den Zwischenrufen des Souffleurs - und fasziniert gerade durch die Unmittelbarkeit und Ehrlichkeit im Klangbild.
Wettlauf um ersten Bayreuther Platten-"Ring"
1951 hatten die Wagners, Wieland und Wolfgang, das Geld beisammen, um die seit 1944 ruhenden Festspiele wieder beginnen zu lassen, und ein Teil des Geldes sollte aus Platten-Lizenzen kommen. Die Langspielplatte war da, die Zeit war reif für Wagner-Gesamtaufnahmen, das "ius primae noctis" ging an die Columbia mit Produzent Walter Legge, zu deren Gunsten andere Plattenfirmen sieben Jahre von der Veröffentlichung eines Bayreuther "Ring"-Mitschnitts ausgeschlossen waren.
Columbia nahm also auf, klarerweise den 1951er Ring mit ihrem Protegé Herbert von Karajan am Pult, veröffentlichte davon aber nur einen Bruchteil. Eine irrationale Situation: Wolfgang Wagner versuchte vielfach, der konkurrierenden DECCA doch den Weg zu ebnen, Legge blieb unbeugsam - und dann kam bei der DECCA John Culshaw ans Ruder, der als sein erstes Großprojekt einen Studio-"Ring" mit den Wiener Philharmonikern anpeilte, den zuletzt doch nicht Hans Knappertsbusch, sondern Georg Solti dirigierte.
"Auferstehung" nach 51 Jahren
So wurden die Bayreuther Mitschnitt-Bänder von 1955 endgültig im Safe der DECCA versenkt - um 2006, nach Ablauf der branchenüblichen gesetzlichen 50-Jahres-Schutzfrist beim Wiederverwertungs-Plattenlabel "Testament" ihre Auferstehung zu feiern.
Nun sind sie zu hören, so lebendig und präsent wie vor 51 Jahren: Astrid Varnay, eine überragende jugendliche Brünnhilde, Wolfgang Windgassen als Siegfried und Hans Hotter als Wotan, die später auch in Wien bei Georg Soltis Studio-"Ring" dabei waren, 1955 schon die Autorität für ihre Rollen hatten, aber noch die größere stimmliche Frische, und - ein weiterer Name unter vielen - Paul Kuen als Mime, der sich bei den "Schmiedeliedern" mit Windgassen ein Duell ums hohe "a" liefert. Und natürlich Joseph Keilberth am Pult des phänomenalen Festspielorchesters, ein wirklicher "Kapellmeister". Selten war Wagner-Geschichtsunterricht so spannend.
Hör-Tipps
Apropos Oper, Donnerstag, 9. November 2006, 15:06 Uhr
Richard Wagner: "Siegfried", Samstag, 11. November 2006, 19:30 Uhr
Links
Testament Classic Recordings
Bayreuther Festspiele