Deutsche Geschichten von Wolf Lepenies
Kultur und Politik
Wie bedingen sich Kultur und Politik? Wie unterstützen oder behindern sie einander? Diesen Fragen geht Wolf Lepenies in seinem Buch nach. Vor allem aber will er erkunden, warum in Deutschland lange Zeit Politik gegen Kultur ausgespielt wurde.
8. April 2017, 21:58
Als 1989 der Ostblock implodierte, wurde ganz Europa von einer ungeahnten Aufbruchsstimmung erfasst. Nun endlich war die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Trennung überwunden. Nun endlich konnte der Kontinent einer schönen, neuen Zukunft entgegeneilen. Aber nicht nur der Gegensatz Ost und West schien zu Ende der 1980er aufgehoben zu sein, auch der zwischen Kultur und Politik. Václav Havel, György Konrad oder Adam Michnik: Von einem Tag auf den anderen wurden ehemalige Dissidenten zu Staatsmännern.
Man musste in Europa bis zur Jahrhundertwende, bis zur Dreyfus-Affäre zurückgehen, um eine politische Wetterlage zu finden, in der Intellektuelle eine ähnliche öffentliche Wirksamkeit erzielten. Es schien, als ob Tocquevilles Vision Wirklichkeit geworden waren: Die Literaten übernahmen die Macht.
Rückkehr der Bürokraten
Während alle anderen moralischen Instanzen versagten, bewahrte sich alleine die Kultur ein ausreichendes Maß an moralischer Glaubwürdigkeit und Würde. Als die politischen Eliten abdanken mussten, stießen die Dramatiker, Romanciers, Filmemacher, Künstler, Schauspieler und andere in dieses Vakuum vor. Und ihnen gelang etwas, was die Staatsführer schon seit langem nicht mehr zuwege brachten: die Jugend zu begeistern. Auch für die Politik. Natürlich hielt die Vorherrschaft der Literaten nicht lange an. Bald schon wurden sie von neuen, alten Bürokraten verdrängt.
Die Heroen, die sich weigerten, Händler zu werden, wurden schnell zu Außenseitern. Aus öffentlichen Moralisten wurden Angestellte im öffentlichen Dienst.
Wolf Lepenies' Buch ist mehr noch als eine Abhandlung über Politik und Kunst eine Abhandlung über die deutsche Seele. Und solche Texte stehen zurzeit in unserem Nachbarland hoch im Kurs. Auch Lepenies treibt die Frage an, warum Deutschland wurde, was es ist. Und aus diesem Grund kommt man natürlich am Dritten Reich und Adolf Hitler ebenso wenig vorbei wie an Thomas Mann. Dem Versagen der bürgerlichen Eliten in der Weimarer Republik wird - wie könnte es anders sein - der deutsche Literaturnobelpreisträger gegenübergestellt.
Späte Identitätsfindung
Was ist der "deutsche Sonderweg"? Ein Punkt ist sicherlich die Überhöhung von Kultur im öffentlichen Diskurs. Damit geht auch die Abschottung vom Politischen einher. Das Feld von Bürokratie und Staatskunst ist schmutzig, verlogen, durch und durch korrupt. Die Kultur aber! Das ist schon was ganz anderes! Schön, völkerverständigend, durch und durch edel.
Solche Einstellungen gibt es auch in anderen Nationen, aber in Deutschland hat sie wie nirgendwo sonst überlebt. Was auch darain liegt, dass das Land später als seine westlichen Nachbarn zu seiner nationalen Identität fand.
Und diese bildete sich weniger über politische Kämpfe und soziale Konflikte heraus als über Beschwörung kultureller Gemeinsamkeiten und den Stolz auf die großen Werke der Literatur, Philosophie und Musik.
Auch für Nicht-Deutsche interessant
"Kultur und Politik" ist ein Buch von einem Deutschen über die Deutschen für die Deutschen. Sehr ernst, sehr staatstragend. Kein Wunder also, dass man Wolf Lepenies dafür - und für sein Lebenswerk - den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleihte. Was es aber auch für Leser jenseits der Grenzen interessant macht: Man kann nach der Lektüre erahnen, welche Katastrophe es für ein Land, das seine Identität seit jeher aus seiner Kultur bezog, gewesen sein muss, nach dem Zweiten Weltkrieg sich von eben jener Kultur abzuwenden.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Download-Tipp
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Buch-Tipp
Wolf Lepenies, "Kultur und Politik. Deutsche Geschichten", Hanser Verlag 2006, ISBN 3446208070