Junger Autor im Visier der Mafia
Die Renaissance der Camorra
Mit seinem Bestseller "Gomorra" hat der junge Journalist Roberto Saviano die neapolitanische Mafia herausgefordert, weil er ihr "Gesetz des Schweigens" gebrochen hat. Nun steht er auf der internen Todesliste und muss um sein Leben fürchten.
8. April 2017, 21:58
Ein Auszug aus Roberto Savianos Buch
Der Journalist Roberto Saviano beschreibt in seinem Reportageroman "Gomorra" detailgenau das Wirtschaftsimperium der neapolitanischen Mafia. Doch der junge Schriftsteller muss einen hohen Preis für seinen literarischen Erfolg bezahlen - seine Freiheit.
Die Mafia-Paten, die er im Buch beim Namen nennt, ließen ihn auf eine interne Todesliste setzen. Während Roberto Savario sich seither an einem geheimen Ort versteckt, feiert die Camorra in Neapel eine blutige Renaissance.
Auf der Todesliste
Schonungslos hat Roberto Saviano in seinem Bestseller "Gomorra" die kriminellen Machenschaften der Camorra aufgedeckt. Von seinem Roman sind bereits mehr als 100.000 Exemplare verkauft worden. Die zehnte Auflage ging gerade in Druck. Doch je mehr Bücher weggingen, desto einsamer wurde es um den erst 28-jährigen Autor. Die Freunde wandten sich ab. In der Folge häuften sich die Drohbriefe und anonymen Anrufe.
Jetzt muss er um sein Leben bangen, denn er steht auf der Todesliste der Camorra-Bosse, weil er die Omertà - das "Gesetz des Schweigens" - gebrochen hat.
Mischung aus Reportage und Roman
Jahrelang hat Roberto Saviano Informationen gesammelt und sich selbst in das Camorra-Netz eingeschleust. In seinem Buch nennt er die Paten beim Namen, zeigt mutig mit dem Finger auf die Di Lauros, die Verdes, die Crispanos. Sein Stil ist grob und direkt, so wie die Machenschaften seiner Protagonisten. Er liefert eine Mischung aus Reportage und Roman, in der er als Ich-Erzähler die Identität wiederholt wechselt.
Einmal ist er ein kleiner Junge, der miterlebt, wie an Schafen neue Gewehre erprobt werden. Dann wieder ist der Erzähler ein Arbeiter, dem in einer illegalen Werkstatt die Reproduktion des Versace-Emblems gelingt. Solchermaßen erzeugte Plagiate bilden eine neue, höchst profitable Marktnische. Saviano nennt etwa die Familie Laudano, die sich genau darauf spezialisiert hat, und ihre Versace-Kopien in der Gneisenaustrasse in Berlin, in der Jevlan Drive in Montreal, ja sogar in einem Wiener Innenstadtgeschäft feilbietet.
Nackte Fakten mit einem Hauch von Poesie
Für Gianluca Di Feo, Chefredakteur der Politzeitschrift "LEspresso", besitzt Saviano einen in Italien bislang unbekannten Stil: "Roberto Saviano greift etwas auf, was beispielsweise in den Vereinigten Staaten eine lange Tradition hat: Er konzipiert zunächst ein Gerüst, das sich aus Auszügen von Gerichtsverfahren, soziologischen Untersuchungen und Universitätsrecherchen zusammensetzt. In dieses Gerüst fügt er dann seine persönliche Erzählung ein. Damit bekommt die Reportage einen Hauch von Poesie. Es entsteht eine Mischung aus kalten, analytischen Fakten und dem Leben und Leiden des Autors.
In dem Buch wird auch darauf hingewiesen, dass für frühere Camorra-Generationen Gewalt an Frauen ein Tabu gewesen ist. Das habe sich geändert: "Heute ist das anders. Es sind zwar die Söhne und Neffen der Paten, doch folgen sie keiner Tradition mehr, sondern ausschließlich dem Ruf des Geldes. Daher gehen sie noch hemmungsloser und gewalttätiger vor." Als Beispiel nennt Saviano dabei die erst 14-jährige Annalisa Durante, die am 27. März 2004 ins Kreuzfeuer verfeindeter Banditen geraten ist und durch einen Kopfschuss getötet wurde.
Millionen Tonnen Müll als lukratives Geschäft
Ein ganzes Kapitel widmet Saviano auch dem Müllnotstand, unter dem Neapel seit Monaten leidet. In der Region Kampanien gibt es keine einzige Verbrennungsanlage. Dennoch importiert die Camorra seit Jahren tonnenweise Sondermüll aus ganz Italien: ein äußerst lukratives Geschäft. Den Müll verscharrt sie entweder irgendwo außerhalb der Stadt oder fackelt ihn einfach auf freiem Feld ab. An manchen Orten können dann Dioxinwerte gemessen werden, die bis zu hunderttausend Mal höher sind, als das Gesetz erlaubt. Im Buch ist zu lesen:
Der Süden ist die Endstation für Italiens Sondermüll - giftige Überbleibsel, Abschaum der Produktion des Nordens. Eine Umweltstudie hat errechnet, dass diese an offiziellen Kontrollen vorbei geschmuggelten Stoffe einen Müllberg von 14 Millionen Tonnen hervorbringen würden: eine Ansammlung von 14.600 Metern Höhe und einer Basis von drei Hektaren. Der Montblanc hat eine Höhe von 4.810 Metern, der Mount Everest 8.844. Dieser illegale Müllberg, der allen Behörden unbekannt zu sein scheint, wäre damit der größte Berg auf Erden.
Unter Polizeischutz
Solche Enthüllungen goutieren die Paten freilich schlecht. Nach zahlreichen Todesdrohungen musste Roberto Saviano jetzt unter Polizeischutz gestellt werden. Zuvor hatten seine Eltern bereits den Kontakt zu ihm abgebrochen. Prominente Schriftsteller und Journalisten, darunter auch Umberto Eco, rufen zur Solidarität auf. Italien dürfe couragierte Menschen wie Roberto Saviano nicht im Stich lassen, so ihre Botschaft.
Für seine persönliche Abrechnung mit der Camorra behält sich Roberto Saviano ein Happy End vor: "Maledetti bastardi, sono ancora vivo! - Er sei noch immer am Leben. Doch dem Leser bleibt nach vollendeter Lektüre nur das bedrückende Gefühl, dass das letzte Kapitel erst noch geschrieben werden muss.
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Download-Tipp
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Buch-Tipps
Roberto Savario, "Gomorra", Editore Mondadori, ISBN 8804554509
John Dickie, "Cosa Nostra. Die Geschichte der Mafia", S. Fischer Verlag, ISBN 3100139062
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