Die gestohlene Autobiografie
Die Frau des Schriftstellers
Mit seinem neuen Roman ist Ernst-Wilhelm Händler ein großer Wurf gelungen. Darin behandelt er ein ungewöhnliches Problem: Was der Ich-Erzähler aus dem Mund eines anderen zu hören bekommt, ist die minutiös recherchierte Geschichte seiner eigenen Kindheit.
8. April 2017, 21:58
Der Ich-Erzähler steht unter Schock. Da hilft auch die heiße Dusche nichts, unter die er sich geflüchtet hat. Am Abend zuvor ist er nämlich dem sagenumwobenen taubstummen Literaturagenten La Trémoille in die Arme gelaufen.
Über keinen anderen Literaturagenten wird in der Presse so viel berichtet wie über La Trémoille. Seine adelige Herkunft, seine exzentrische Erscheinung und der seiner Behinderung abgetrotzte Erfolg haben ihn zum Star gemacht. Würde er mir vorschlagen, den Verlag zu wechseln?
Treffen mit Verlegergiganten
Zu Beginn sieht es so aus, als wollte der Agent genau dies tun. Schlägt er dem Ich-Erzähler doch eine Zusammenkunft mit dem charismatischen Verlegergiganten Guggeis vor, aber was ein Höhepunkt im Leben des Autors werden soll, wird schnell zum Drama. Es stellt sich heraus, dass der Umworbene zu einem ganz anderen Zweck geködert wurde: Er soll das halbfertige Manuskript des Guggeis-Erfolgsautors und Literaturstars Tonio Pototsching vollenden. Dieser Pototsching ist Schweizer, sieht blendend aus, war früher Fußballer und ist in allem das genaue Gegenteil des Ich-Erzählers.
Pototsching und ich, wir kämpften mit ungleichen Waffen. Nie hatte er sein Ziel aus den Augen verloren. Er ging auf Lesereisen, er nahm Preise an, er schrieb lobende Texte über andere Autoren. Die perfekte Beherrschung dieser Existenz war fast ebenso unheimlich wie der Ausbruch aus ihr.
Fast ein Schlüsselroman
Widerwillig trifft also der Ich-Erzähler den schönen Tonio und als dieser ihm im Hotel aus dem Manuskript vorliest, glaubt er zu träumen. Das, was er da zu hören bekommt, ist die minutiös recherchierte Geschichte seiner eigenen Kindheit im österreichischen St. Pankraz. Eine Autobiografie aus fremder Hand! Ein anderer, der sich des eigenen Lebens bemächtigt. Und, als wäre das noch nicht schlimm genug, soll nun der, dem die Existenz gestohlen wurde, für den anderen eben jene Biografie fertig stellen.
In "Die Frau des Schriftstellers" beschäftigt sich Händler mit der Literaturgattung des Schlüsselromans, denn natürlich trägt Guggeis unverkennbar die Züge Siegfried Unselds. Dessen Verlag - Heimat der "Guggeis"-Kultur - ist dem Suhrkamp Verlag zum Verwechseln ähnlich. Wer aber nun glaubt, jede Figur in dem Text einer Person des deutschen literarischen Lebens zuordnen zu können, der irrt. Sowohl La Trémoille als auch der schöne Schweizer Pototsching haben kein Äquivalent.
Wer ist "ich"?
In "Die Frau des Schriftsteller" verhandelt Händler die literaturtheoretische Frage, mit der sich die Postmoderne über Jahrzehnte auseinander gesetzt hat. Was ist ein Autor? Was ist ein Text? Wer spricht, wenn jemand "ich" sagt?
Der Schriftsteller ist der einzige, dem noch erlaubt ist, "ich" zu sagen. Der Wissenschafter darf das Wort gar nicht in den Mund nehmen. Tut er es trotzdem, gibt er zu erkennen, dass er einen Standpunkt vertritt, den sonst niemand teilen will. Nur Außenseiter und Querulanten sagen "ich". Der Geschäftsmann darf lediglich dann "ich" sagen, wenn er tatsächlich nicht sich selbst meint, sondern im Namen der Firma spricht.
Mit seinem neuen Roman ist Ernst-Wilhelm Händler ein großer Wurf gelungen. Gut und flüssig geschrieben, handelt er souverän die großen Fragen unseres heutigen Lebens ab. Um das Buch aber mit all seinen Verzweigungen und Verweisen zu verstehen, muss man sich ausreichend Zeit nehmen. Und das Werk wahrscheinlich ein zweites Mal lesen.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 3. November 2006, 16:30 Uhr
Ex libris, Sonntag, 5. November 2006, 18:15 Uhr
Mehr dazu in Ö1 Programm
Download-Tipp
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Buch-Tipp
Ernst-Wilhelm Händler, "Die Frau des Schriftstellers", Frankfurter Verlagsanstalt, ISBN 3627000285