Habe ich dir eigentlich schon erzählt

8. April 2017, 21:58

"Die Art Kinder oder Menschen, mit denen ich was anfangen kann, die sind schon eher ein bisschen Außenseiter, ein bisschen nachdenklicher und sie wissen nicht so richtig, was man auf der Welt soll", meint Sibylle Berg. Solche Kinder sind auch die Protagonisten in Sibylle Bergs neuem Buch "Habe ich dir eigentlich schon erzählt, ein Märchen für alle".

Hexen sehen heute anders aus

Sie heißen Anna und Max. Die zwei haben neben ihrem Alter - sie sind beide 14 - auch sonst so einiges gemeinsam: Sie sind Nachbarn in einem heruntergekommenen Hochhaus in der DDR, haben beide keine Freunde, sie finden sich selbst hässlich, träumen von fremden Ländern, vom Abenteuer weit, weit weg, und ihre Eltern finden die beiden schrecklich. Max lebt bei seinem Vater, einem schweigsamen Polizisten, Anna bei ihrer Mutter, einer einsamen Alkoholikerin, die eines Tages auf der Straße zusammenbricht. Max hilft Anna, ihre Mutter ins Haus zu bringen, die beiden verstehen sich auf Anhieb gut und beschließen noch am selben Abend, aus ihrem tristen Alltag auszubrechen und zu fliehen.

Anders also als bei "Hänsel und Gretel" gehen Anna und Max aus eigenem Antrieb weg, dafür gibt es aber auf der Flucht von der DDR über Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien in die Türkei in Sibylle Bergs neuem Buch potenzielle Hexen gleich in der Mehrzahl: Da sind einmal Kinderverschlepper in Polen, dann gibt es ein Heim für streunende Kinder mit gemeinen Wärtern, und selbst oder gerade die Polizei würde Max und Anna gerne im Backofen sehen.

Die zwei atypischen Jugendlichen schaffen es, zu entkommen und diese Flucht schweißt die zwei zusammen. Es entwickelt sich sogar so was wie eine zarte Liebe. Das ist irgendwie ungewöhnlich für Sibylle Berg, deren frühere Bücher makaber bis ungustiös waren, aber schon ihr letztes Buch mit dem bezeichnenden Titel "Ende gut" hatte ein gutes Ende.

Schnelllebige Zeit

Die in der Schweiz lebende Deutsche hat mit "Habe ich dir eigentlich schon erzählt" eine kokettes, sehr ironisches, geistreiches und humorvolles Märchen geschrieben. Die Sprache ist unprätentiös, pointiert, frivol, allerdings nicht wirklich kindlich, und so wirken Anna und Max passagenweise übertrieben altklug und auch manche ihrer Gedanken und Handlungen erscheinen als zu erwachsen: Wenn die beiden etwa Fließbandkinder befreien wollen oder schlussendlich Mitleid mit ihren Verschleppern zeigen.

Das führt Sibylle Berg mitunter auf die Schnelllebigkeit zurück, damals wie heute müssten Kinder schnell funktionieren lernen: "Du musst heute gut aussehen, du musst sportlich sein, du musst irgendwie dich schon früh entscheiden, wo du Karriere machen willst - die reden ja schon als Kinder von Karriere machen. Also es kommt mir halt so vor, dass es immer schwieriger wird, ein bisschen anders zu sein, du fliegst ganz schnell aus der Kurve."

Geänderte Zielgruppe

Max und Anna helfen sich durch schriftliche Selbstgespräche, in denen sie ihre Angst vor dem Erwachsenwerden, ihre Einsamkeit, aber auch ihre Träume kundtun. Und so wechseln die Erzählperspektiven der beiden, einmal erzählt Anna, dann wieder Max, ein Dialog ergibt sich, wie es bei Sibylle Bergs Werken zumeist der Fall ist, nur in Ansätzen.

"Habe ich dir eigentlich erzählt" ist ein Märchen für alle geworden, die ursprünglich anvisierte Zielgruppe wurde geändert: "Jetzt ist es so für depressive Kinder oder Jugendliche ab zehn. Ich glaube, in dem Alter kann man mit dem was anfangen, die sind ja schon richtig schlau." Die Gebrüder Grimm haben bekanntlich auch nicht für Kinder unter zehn geschrieben, ob sie depressiv waren oder nicht, ist eine andere Frage.