Wie Geschichte auch Nachgeborene einholt

1956 - ein Teil meiner Vita

Er kam bereits in Wien zur Welt und wollte nie ins "ungarische Eck" gestellt werden: Historiker Béla Rásky. Anlässlich des Jahrestages des Ungarn-Aufstands reflektiert der Sohn von 1956er-Flüchtlingen darüber, wie die Geschichte Nachgeborene einholt.

In seinem Schwerpunkt "Ungarn 1956" präsentiert Ö1 einen vielfältigen und umfassenden Überblick zur Geschichte unseres Nachbarlandes. Anlässlich des 50. Jahrestages der ungarischen Revolution am 23. Oktober 2006 kommt nun ein Nachgeborener zu Wort:

Historiker Béla Rásky, Jahrgang 1959, Kind ungarischer Flüchtlinge, der in Wien geboren wurde. In seinem Essay reflektiert er, wie er sich dagegen wehrte, ins "ungarische Eck" gestellt zu werden - und letztlich doch von der Geschichte eingeholt wurde.

Béla Rásky war langjähriger Leiter des "Austrian Science and Research Liaison" Office in Budapest und zuletzt Kurator der Ausstellung "Flucht nach Wien. Ungarn 1956" im Wien Museum. Er ist in der Ö1 Reihe "Betrifft: Geschichte" von Montag, den 23. Oktober bis Freitag, den 27. Oktober 2006 (17:55 Uhr) zu hören.

Eine immerwährende Präsenz

Als ein bereits in Wien geborenes Kind ungarischer 1956er-Flüchtlinge blieb die Revolution 1956 wissentlich-unwissentlich immer ein Teil meiner eigenen Lebensgeschichte: Ohne sie wäre ich woanders geboren worden, würde mich in einer anderen Sprache heimisch fühlen, hätte andere Freunde und Freundinnen und letztlich sicherlich auch eine andere Ausbildung erhalten.

Ungarn und 1956 war in meiner Wiener Kindheit und Jugend immer präsent: in den familiären Erzählungen, bei den Gästen, die ab Mitte der 1960er Jahre langsam aber sicher auch aus Ungarn eintrudelten, in den Fragen und Stellungnahmen der "echten" Österreicher. Aber nichts wollten wir Kinder der zweiten Generation mehr als ein "normales" österreichisches, Wiener Leben leben.

Sein wollen, wie die anderen

1956, die russische Besatzung, die Erzählungen, die ganze Geschichte darüber, war uns ein Gräuel. Natürlich, wir waren ab ovo "politischer" als die anderen, eben weil uns Politik und Geschichte so sehr geprägt hatten. Ungarisch war die Sprache daheim, die man tunlichst im öffentlichen Raum vermied. Dabei schämten wir uns für den Akzent oder die grammatikalischen Fehler der Eltern, suchten die physische Distanz, wenn wir uns "draußen" mit ihnen bewegten.

Die diakritischen Zeichen über den Vokalen unserer ungarischen Namen fielen bei jeder sich ergebenden Möglichkeit absichtlich weg. Wir wollten so sein wie die anderen, erkannten nicht den Wert einer zweisprachigen, multikulturellen Erziehung. Ungarisch zu lesen oder zu schreiben war eine physische Qual, die gesprochene andere Sprache schon ausreichend Anstrengung genug - und in die sich durch die Schule zum Leidwesen unserer Eltern wahrscheinlich zudem zunehmend mehr und mehr deutsche Lehnworte, deutsche Endungen, deutsche Redewendungen einschlichen.

Ähnliche Problematik wie bei Gastarbeiter-Kindern

In der Welt draußen waren wir Wiener und Wienerinnen, oder versuchten, es zu sein, in der Welt daheim die Kinder unserer Eltern, die versuchten, uns zu kleinen Ungarn und Ungarinnen zu machen. Auch deshalb fühle ich mich den Kindern der zweiten und dritten Gastarbeitergeneration so nahe, entdecke viele Ähnlichkeiten.

Auch wenn wir es sicherlich einfacher hatten: Den "Schleierkampf" werden sie wohl selbst austragen müssen, gegen ihre Eltern, aber vor allem mit sich selbst. In uns in vielem doch ähnlich. Egal wie sie sich entscheiden, irgendwann werden sie wissen, wohin sie gehören.

Flüchtlingskinder und ihre Aufarbeitung

Allein beim Fußballländerspiel Österreich gegen Ungarn hatte ich dann doch immer Loyalitätskonflikte - vielleicht interessiert mich Fußball auch deshalb bis heute nicht sonderlich. Aber die Verweigerung nutzte letztlich nichts, irgendwann war man unwillentlich doch der "Ungarnspezialist".

Es ist wohl kein Zufall, dass sich so viele Kinder von ungarischen Flüchtlingen wissenschaftlich oder literarisch in einer anderen Sprache gerade mit der ungarischen Zeitgeschichte auseinandersetzen: Dissertationen und Diplomarbeiten zum Thema aus der Feder der zweiten Generation füllen die Kataloge vieler Bibliotheken, Zsuzsa Bánk arbeitete das Trauma ihrer Eltern in "Der Schwimmer" auf, Tibor Fischer in "Under the frog".

Widerwillen gegen "ungarisches Eck"

Und obwohl ich alles tat, nicht in dieses "ungarische Eck" gedrängt zu werden - ich dissertierte über ein österreichisches zeitgeschichtliches Thema - wurde auch ich doch immer wieder zu ungarischen Themen befragt:

Als hätte ich dieses Wissen gewissermaßen mit der Muttermilch eingesogen und mir nicht auch aneignen müssen - sicherlich mit dem Vorteil der Sprachkenntnis.

Mein Geschichtsstudium und die Folgen

Aber die Geschichte holte einen trotz allem letztlich doch ein: Ich entschied mich für ein Geschichtsstudium, schloss mich in der Studienzeit linken Gruppierungen an und landete nach langen Umwegen bei einem "Sozialistischen Osteuropakomitee" und der von diesem herausgegebenen Zeitschrift "gegenstimmen".

Natürlich war dies auch eine Rebellion gegen die Eltern, aber letztlich auch ein Respekt vor deren Lebensweg, denn ich gehörte nie zur jener stalinistischen Linken, die die Revolution 1956 in irgendeiner Weise diffamierte. Meine Aktivitäten für die demokratische Opposition Osteuropas brachten mir schließlich ein langjähriges Einreiseverbot in die Länder des realen Sozialismus - eigentlich bis zu deren Fall.

1956, ein Teil meiner eigenen Geschichte

Als am 16. Juni 1989 Imre Nagy vor 300.000 Menschen feierlich am Budapester Heldenplatz wiederbestattet wurde, stand ich übrigens - mit einer einmaligen Einreisebewilligung - auch da: Denn, wie gesagt, die Revolution 1956 war und ist ein Teil meiner eigenen Geschichte, und ich wusste und weiß, dass ich es ihr schuldig war dazustehen.

Hör-Tipps
Betrifft: Geschichte, Montag, 23. Oktober bis Freitag, 27. Oktober 2006, jeweils 17:55 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendereihe "Betrifft Gesichte" gesammelt jeweils am Freitag der Ende der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.

Veranstaltungs-Tipps
Ausstellung "Flucht nach Wien - Ungarn 1956", Donnerstag, 7. September 2006 bis Sonntag, 26. November 2006, Wien Museum Karlsplatz,
Ö1 Club-Mitglieder erhalten ermäßigten Eintritt (25 Prozent)

Mehr dazu in Ö1 Inforadio

Links
Kakanien revisited - "Wir waren schon echte Internationalisten ..."
Wien Museum - Flucht nach Wien. Ungarn 1956