Turbulente Familiengeschichte

Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch

Marina Lewycka Roman wäre wohl in der Rubrik "triviale Unterhaltung" einzuordnen, wenn es ihr mit ihrem flott und locker erzählten Text nicht auch gelingen würde, einige durchaus brisante Themen anzusprechen, wie etwa die Immigration.

Mit einem Anruf fing alles an.
Mein Vater krächzt mit vor Erregung zittriger Stimme in die Leitung: "Gute Neuigkeiten, Nadeshda! Ich heirate!"


Für Nadeshda und ihre Schwester Vera ist diese Ankündigung ein Schock, denn immerhin ist ihr Vater 84, seine Auserwählte 36 - und damit um einiges jünger als ihre künftigen Stieftöchter.

Sie heißt Valentina, erzählt er. Aber sie erinnere eher an eine Venus: "Du weißt schon: goldenes Haar, wunderschöne Augen, fantastischer Busen!"
Die erwachsene Frau in mir ist nachsichtig. Süß, so ein spätes Liebesglühen. Die Tochter in mir ist beleidigt. Verräter! Alter geiler Bock! Mutter ist gerade mal zwei Jahre tot!

Eindeutige Motive?

Nadeshda und Vera setzen alles daran, ihren Vater Nikolai aus den Klauen dieser Venus zu retten, denn Valentinas Motive für die Heirat scheinen eindeutig zu sein: Sie kommt aus der Ukraine, ist geschieden, hat einen halbwüchsigen Sohn, mit dem gemeinsam sie per Touristenvisum nach Großbritannien eingereist ist - um sich nun hier auf Kosten des verblendeten, liebestollen Alten ein schönes Leben zu machen.

Auch der Autorin selbst war Valentina zu Beginn gehörig unsympathisch gewesen, dann aber habe sie sich genauso in sie verliebt wie der alte Mann. Schließlich gehe es Valentina nur darum, das Beste für ihren Sohn herauszuholen - mit viel Energie und auch mit ein wenig Brutalität. Dafür mit einem alten Mann in einem fremden Land zusammen zu leben, sei doch ein großes Opfer, meint Lewycka.

Turbulent und komisch

Nadeshda und Vera sehen das allerdings nicht so verständnisvoll. Die Hochzeit können sie nicht mehr verhindern, also versuchen sie mit allen möglichen (legalen wie illegalen) Mitteln, die Ehe schleunigst wieder annullieren zu lassen und dafür zu sorgen, dass Valentina samt Sohn in die Ukraine abgeschoben werde.

Nikolai, der von Valentina gehörig gepiesackt wird, spielt dabei teilweise mit, dann wieder torpediert alle Pläne seiner Töchter - und aus dieser Konstellation entwickelt sich eine turbulente und in vielem sehr komische Familiengeschichte.

Bewertung von Immigration

Dieser Roman wäre wohl in der Rubrik "triviale Unterhaltung" einzuordnen, wenn es Marina Lewycka mit ihrem flott und locker erzählten Roman nicht auch gelingen würde, einige durchaus brisante Themen anzusprechen. So etwa die Frage nach der Bewertung von Immigration. Denn nicht nur Valentina, sondern auch Nadeshda, Vera und deren Eltern kommen aus der Ukraine. Allerdings sind sie gleich nach dem Zweiten Weltkrieg aus politischen Gründen nach Großbritannien geflüchtet. Daraus beziehen die beiden Schwestern das stolze Bewusstsein, "bessere Immigranten" zu sein als jenes Valentinas, denen es - so die Schwestern - nur ums Geld gehe. Allerdings werden sie im Verlauf der Handlung mehr und mehr gefordert, ihre Haltung zu hinterfragen.

Ein weiteres wichtiges Thema ist die Problematik des Umgangs mit alten Menschen, die, so wie Nikolai, einerseits auf die Hilfe der Jüngeren angewiesen sind und mit dieser auch rechnen, andererseits aber auch ihren Willen durchsetzen wollen und damit hin und wieder die Familie in Verzweiflung versetzen. Probleme, die die Soziologin Lewycka aus ihrer Arbeit für eine englische Altenbetreuungsorganisation kennt.

Viel Autobiografisches

Marina Lewycka hat in ihren Roman sehr viel von ihrer eigenen Familiengeschichte eingebracht. Auch sie ist mit ihren Eltern und ihrer Schwester nach dem Krieg aus der Ukraine nach Großbritannien geflüchtet. Auch ihr Vater hat nach dem Tod der Mutter eine wesentlich jüngere Frau geheiratet, und von ihm stammt auch der Titel des Buches.

Die kurze Geschichte des Traktors, die ihr Vater, ein Ingenieur geschrieben hatte, baut Marina Lewycka in ihrem Buch zu einem eigenen Erzählstrang aus. Es geht dabei tatsächlich um die Geschichte des Traktors - und zwar nicht nur in der Ukraine. Lewycka verwendet diesen - durchaus spannend erzählten - historischen Überblick, um die soziale und politische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu skizzieren und damit den geschichtlichen Hintergrund für die Schicksale ihrer Romanfiguren zu zeichnen.

Als das Buch in Großbritannien erschien, wurde der Titel zunächst von manchen missverstanden und der Roman unter "Landwirtschaftsgeschichte" abgelegt.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 15. Oktober 2006, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Marina Lewycka, "Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch", aus dem Englischen übersetzt von Elfi Hartenstein, dtv, ISBN 3423245573