Die Gruppe Leningrad und Sergej Schnurow
"Schwanz im Mantel"
Balladen über die ewigen russischen Säufer voller Unglück, Verlassenheit und Selbstmitleid: Die Pop-Gruppe Leningrad rund um Mastermind Sergej Schnurow schildern seit 1993 in ihren Texten postsowjetische Seelezustände, vermengt mit Ska.
8. April 2017, 21:58
Von Sankt Petersburg sprechen Romantiker oder Leute, die von Russland keine Ahnung haben. Die Stadt an der Newa ist und bleibt Leningrad - grob, herabgekommen, ordinär. Nicht zuletzt auf diesen Umstand verweist der Name der zurzeit prominentesten russischen Pop-Gruppe Leningrad.
Gegründet wurde Leningrad laut Sergej Schnurow, Erfinder und Leader der Band, ungefähr 1993. Mit Unterstützung durch prominente Musikerkollegen wie Boris Grebenschikow und zu einer Zeit, als sich die russische Rockmusik gerade aus dem Underground befreite und in Leningrad eine wilde Clubzene im Entstehen begriffen war. Die ersten Leningrad-CDs wurden noch auf Pentium-500-Computern handgemacht und in Clubs verteilt, mittlerweile füllt die Ska-Band ganze Fussbaldstadien.
Markenzeichen "Mutterfluch"
Eingeschlagen haben Leningrad sofort - mit Balladen über die ewigen russischen Säufer voller Unglück, Verlassenheit und Selbstmitleid, Geschichten von kleinen Gaunern in ihren ewigen Konflikten mit der Polizei und mitleidigen Stories über das Mütterchen ohne elektrischen Strom in der Wohnung. Leningrad war und ist Ausdruck postsowjetischer Seelezustände pur.
Zwar ist meist auch Marihuana im Spiel, was in bislang acht, zehn CDs aber vor allem mustergültig vorgeführt wurde, ist das Markenzzeichen der Band - der Mutterfluch. "Jeb twaju mat", "Fuck your mother", darf man im Russischen zusammen mit vier, fünf weiteren obszönen Ausdrücken aus der Genitalsphäre geradezu als Universalschlüssel einer karnevalesken und anarchistischen Weltsicht jenseits von Gut und Böse ansehen.
Die Besonderheit dabei: Jeder kennt diese Ausdrücke und niemand verwendet sie "offiziell". In der prüden Sowjetgesellschaft streng verboten, unterliegt die sogenannte "nicht-normative Lexik" auch im heutigen Russland einem Tabu. Leningrad-Texte sind dagegen der pure, sprachspielerische Tabubruch, der sich mitunter in die poetischen Höhen des Absurden erhebt. "Wer ist da an der Tür?" heißt es da - die Antwort: "Der Schwanz im Mantel!"
Erfolgsfaktor Auftrittverbot
Nicht wenig zum Erfolg der Gruppirowka (der Ausdruck verweist darauf, dass sich die Band als Gangstergang versteht) trug das im Jahr 2003 vom Moskauer Bürgermeister Luschkow über Leningrad verhängte Auftrittsverbot für die russische Hauptstadt bei. Das Verbot ist nach wie vor gültig und nach wie vor findet Sergej Schnurow, der zuletzt vor allem mit der Gruppe Spitfire auftrat und mit den britischen Tiger Lillies zwei Alben aufnahm, immer wieder ein Kellerlokal für seine musikalischen Orgien und Exzesse an Kraft, Geschwindigkeit und Ska.
Mittlerweile ist Leningrad in und es gibt eine regelrechte Leningrad-Industrie: Im Internet kann man Schnurow-TV anschauen, Schnur, so der Spitzname von Sergej Schnurow, nimmt an Wohltätigkeitsveranstaltungen teil, Schnurow produziert Comics und vorkauft Bilder, die er jetzt auch malt, und der einstige russische Paraderabauke trinkt vor seinen Auftritten nur noch ein Bier. Davon konnte man sich bei der vergleichsweise gross angelegten Europatournee von Leningrad in diesem Jahr überzeugen.
Das Album "Chleb" wurde in Deutschland produziert. Die wilde Agression früherer Lieder, in denen Schnurow ganz zeitgeistig nur noch wusste, dass er "http://www.leningradspb.ru" hiess, ist elektronischer, sanftmütig klingender Verarschung der Neureichen gewichen, für die er mitunter auch Privatkonzerte gibt. Es kam wie es kommen musste - alle lieben Leningrad. Leningrad-Songs kann man zurzeit im Kino als Hintergrundmusik zu Verfilmung von Jonathan Safran Foers "Alles ist erleuchtet" hören. Die Musik passt zum Film: Es geht um den Krieg.
Hör-Tipp
Spielräume Spezial, Sonntag, 8. Oktober 2006, 17:10 Uhr
Links
Leningrad
Spitfire
Tiger Lillies
Alles ist erleuchtet