Indische Augenblicke
Zeiten des Glücks im Unglück
Die in "Zeiten des Glücks im Unglück" zusammengefassten Texte von Amitav Ghosh sind im Verlauf von fast zwei Jahrzehnten entstanden. Sie sind zugleich Bericht, Reportage, Analyse, Essay und ganz persönliche Reflexion.
8. April 2017, 21:58
Zur Mittelschicht zu gehören bedeutet in Indien wie überall sonst, von einem Rettungsfloß über Wasser gehalten zu werden, das aus Papier besteht: Personalausweise, Genehmigungen, Schulzeugnisse, Sparbücher, (...), Versicherungspolizzen und Quittungen für angelegtes Geld. Es war der besondere Charakter dieser Naturkatastrophe, dass sie nicht nur auf die physische Existenz ihrer Opfer zielte, sondern auch auf die Beweisstücke für die Identität der Überlebenden. In der Plötzlichkeit seines Auftauchens ließ der Tsunami keine Zeit für Vorkehrungen.
Wenige Tage nach der Flutwelle, die am 26. Dezember 2004 in Sri Lanka, Indien sowie in einigen Regionen von Thailand und Indonesien verheerende Zerstörungen anrichtete, besuchte Amitav Ghosh die zu Indien gehörigen Inseln der Andamanen und Nikobaren. Der aus Kalkutta - Kolkata, wie es heute heißt - gebürtige Romancier, der mit dem Roman "Der Glaspalast" den internationalen Durchbruch geschafft hatte, war diesmal als Reporter unterwegs. Die Berichte über seine Begegnungen mit Überlebenden der Flutwelle erschienen in indischen und westlichen Medien. Eine der Reportagen ist nun in dem Buch "Zeiten des Glücks im Unglück: Indische Augenblicke" abgedruckt.
Persönliche Verbundenheit
Das Buch enthält insgesamt elf Texte von Amitav Ghosh. Sie beschäftigen sich - anders als der Titel vermuten lässt - nicht nur mit Ereignissen im indischen Bundesstaat oder in der indischen Diaspora, sondern auch mit Geschehnissen in Ländern, denen sich Amitav Ghosh durch verwandtschaftliche Beziehungen, seinen eigenen Lebensweg oder durch persönliche Affinitäten besonders verbunden fühlt. Dazu zählen Sri Lanka, Kambodscha und Birma, das heutige Myanmar.
Historische, sozioökonomische und kulturelle Bilder
"Das Meer hat meine Uniform mitgenommen, meine Lebensmittelkarte, meinen Dienstausweis, meinen Pass; es hat alles mitgenommen", sagte er. "Ich kann nicht beweisen, wer ich bin. Warum sollten sie mir glauben?"
Wie gehen Menschen wie Obed Tara von der Insel Car Nicobar mit dem Verlust ihrer beweisbaren Identität um? Wie bewältigen Inder, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben vom Festland auf die Andamanen gezogen waren, die plötzliche Zerstörung all dessen, was sie in mehreren Jahrzehnten harter Arbeit aufgebaut hatten?
Indem Amitav Ghosh diesen Fragen nachspürt, zeichnet er zugleich ein historisches, sozioökonomisches und kulturelles Bild der Inselgruppe. Er analysiert die Beziehungen zwischen den Zuwanderern und der autochthonen Bevölkerung; er beschreibt, wie moderne Siedlungen das traditionelle Misstrauen gegenüber dem Indischen Ozean abgelegt haben und sich mit ihrer Lage direkt am Strand schutzlos jeder Naturkatastrophe ausliefern; und er geht auf die Relevanz demokratischer Strukturen bei der Verteilung von Hilfsgütern ein.
Das Phänomen des Terrors
Der Feind des Schweigens ist die Sprache, aber es kann keine Sprache geben ohne Worte, und es kann keine Worte geben ohne Bedeutungen - daraus folgt unumstößlich, in der Art von Syllogismen, dass wir uns, wenn wir von Ereignissen zu sprechen versuchen, deren Bedeutung wir nicht verstehen, in dem Schweigen verlieren müssen, das in der Lücke zwischen Worten und der Welt liegt. (...) Wo keine Bedeutung ist, da ist Banalität, und genau darin besteht dieses Schweigen, genau deswegen kann es nicht besiegt werden.
Das schreibt Amitav Ghosh in seinem Essay "Der größte Schmerz", in dem er sich mit dem Phänomen des Terrors von Sri Lanka über Kaschmir bis zu den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York auseinandersetzt.
Bericht, Reportage, Analyse und Essay zugleich
Die Texte von Amitav Ghosh lassen sich nicht eindeutig zuordnen. Sie sind zugleich Bericht, Reportage, Analyse, Essay und ganz persönliche Reflexion. In ihrer Vielschichtigkeit repräsentieren sie das Pendant zum Roman, wie Ghosh selbst ihn versteht. Als Metaform sprenge der Roman alle Grenzen und Unterscheidungen zwischen dem Historiker, Journalisten und Anthropologen - also jenen drei Berufssparten, in denen Amitav Ghosh selbst als Schreibender und Lehrender tätig ist.
Die in "Zeiten des Glücks im Unglück" zusammengefassten Texte sind im Verlauf von fast zwei Jahrzehnten entstanden. Dass sie damit nicht den aktuellen Stand der Entwicklung in den jeweiligen Ländern widerspiegeln, tut ihrer Qualität keinen Abbruch. Beeinträchtigt wird die Lektüre nur durch die an einigen Stellen verkrampft wörtliche Übersetzung aus dem Englischen.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonenntInnen können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.
Buch-Tipp
Amitav Ghosh, "Zeiten des Glücks im Unglück. Indische Augenblicke", aus dem Englischen übersetzt von Barbara Heller, Tobias Dürr und Chris Hirte, Blessing Verlag, ISBN 3896673149