Ein Brüderpaar am Siebentausender

Der fliegende Berg

Mehr als zehn Jahre lang hat der in Irland lebende österreichische Autor Christoph Ransmayr an seinem vierten Roman gearbeitet. "Der fliegende Berg" erzählt von einem Brüderpaar. Von der Tour auf den "Fliegenden Berg" kehrt nur einer der beiden zurück.

Beim Aufschlagen des "Fliegenden Bergs" glaubt man, ein Versepos vor sich zu haben, ein 350 Seiten umfassendes Langgedicht. Ein Irrtum. Es handelt sich um ganz normale Prosa, gesetzt allerdings im Flattersatz mit ungleich langen Zeilen. Ein satztechnisches Experiment, das er schon lange einmal machen wollte, sagt Christoph Ransmayr.

"Ich glaube einfach, das entspricht dem Rhythmus des Sprechens", meint er. "Der Text zeichnet den Rhythmus nach, in dem ich die Geschichte erzählen würde. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Prosa im Blocksatz daherkommt und Lyrik gemeinhin im Flattersatz. Wo steht geschrieben, dass das immer so sein muss?"

Bin ich der Hüter meines Bruders?

Ransmayr erzählt die Geschichte zweier Brüder, die von der Südwestküste Irlands in die archaische Bergwelt Osttibets aufbrechen. Sie träumen davon, einen bislang unentdeckten Berg zu ersteigen, den geheimnisvollen "Kham Phur-Ri", zu Deutsch: den "fliegenden Berg". Die beiden Iren finden den sagenumwobenen Siebentausender tatsächlich, allerdings kehrt nur einer der Brüder, der Ich-Erzähler, lebend von der gefahrvollen Tour zurück.

Die Idee zu seinem Roman sei ihm Mitte der 1990er Jahre gekommen, erzählt Christoph Ransmayr. Damals habe er mit seinem Freund Reinhold Messner ausgedehnte Touren durch den Osten Tibets unternommen. Da drängt sich natürlich die Frage auf: Hat sich Ransmayr von den dramatischen Ereignissen des Sommers 1970 inspirieren lassen, als Reinhold Messners Bruder Günther bei einer gemeinsamen Nanga-Parbat-Expedition ums Leben kam?

"Die Geschichte der Messner-Brüder hat mich ja nicht nur deshalb interessiert, weil ich mit Reinhold Messner seit vielen Jahren befreundet bin", so Ransmayr, "sondern weil mich Brüdergeschichten ganz generell schon seit den Tagen beschäftigen, an denen ich zum ersten Mal von unserem Dorfpfarrer in Roitham bei Gmunden von der Geschichte der Brüder Kain und Abel gehört habe. Die hat ja irgendwann auch zur Frage geführt: Können Brüder einander töten? Aber auch zur Frage: Bin ich der Hüter meines Bruders? Eine empörend freche, kühne Antwort Kains auf die Frage Jahwes. Die Ungeheuerlichkeit dieser Gegenfrage hat mich immer wieder beschäftigt. Das, inwieweit wir verantwortlich sind für Leute, die wir unsere Brüder nennen oder die tatsächlich unsere Brüder sind, das ist etwas, was mich am Archetypus dieser Geschichte interessiert hat."

Bergtour als Zeitreise

Ransmayr ist nach eigenem Bekunden ein Bergfex, ein leidenschaftlicher Alpinwanderer. Die Welt der Berge, Graten, Gipfelkreuze hat den Lehrersohn aus Roitham bei Gmunden schon als Kind fasziniert.

"Die Berge waren ja schon in meinem Kinderzimmer immer eine Art Mauer, die die Aussicht begrenzt haben, aber auch ein Sehnsuchtspunkt, denn die Berge waren immer etwas, wohin nicht nur die sonntäglichen Ausflüge geführt haben, sondern auch meine Phantasie-Ausflüge, wenn man so will. Mich fasziniert bis heute etwas ganz Bestimmtes an den Bergen: Besteigt man einen Berg, unternimmt man in gewisser Weise auch eine Zeitreise. Je höher man kommt, umso weiter geht man zurück in der Menschheitsgeschichte. Man steigt aus den zivilisierten Tälern hinauf und kommt in Regionen, die sich dem Wanderer heute nicht viel anders präsentieren als dem neolithischen Jäger vor vielen Hunderttausenden Jahren."

Berge können fliegen

Im "Fliegenden Berg" wird jener schwerblütig-poetisierende Tonfall angeschlagen, den Ransmayr-Bewunderer bereits an früheren Büchern des Autors geschätzt haben. Wer Bergsteigerdramen mag, wer einen Sinn hat für die archaisierende Magie der Ransmayrschen Sprache, für das phantasievolle Spiel mit Mythen, Märchen und Geschichten, wird an diesem Roman seine helle Freude haben.

Dass Berge fliegen können, glauben viele Menschen im Transhimalaya. Einer tibetischen Überlieferung zufolge standen alle Berge dieser Welt in mythischer Vorzeit als Sterne am Firmament. Irgendwann lösten sie sich aus dem Funkenschwarm der Gestirne, schwebten durch die kosmische Nacht auf die Erde herab. In ferner Zukunft, so glauben viele Tibeter, würden sich die Berge aufs Neue in die Lüfte erheben und ins Weltall emporsteigen. Eine schöne Geschichte. Auch sie lässt sich in Ransmayrs Roman nachlesen. Ob sie ethnografischer Überprüfung auch wirklich standhält? Ob der Dichter sie am Ende bloß erfunden hat? Schwer zu sagen. Tatsache ist: Wer Bücher - gute Bücher - liest, fliegt in gewisser Weise auch. Mit Ransmayrs Roman abzuheben, ist ein Flugerlebnis der besonderen Art.

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Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 24. September 2006, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Christoph Ransmayr, "Der fliegende Berg", S. Fischer Verlag, ISBN 3100629361