Eine indische Dynastie
Die Nehrus und die Gandhis
Tariq Ali gelingt es in seinem Buch meisterhaft zu zeigen, wie Familienkonstellation, politische Rahmenbedingungen und der persönliche Charakter die Denk- und Handlungsweise der einzelnen Mitglieder der Nehru-Gandhi-Dynastie bestimmen.
8. April 2017, 21:58
"Während die Welt in Schlummer liegt, wird Indien zum Leben und zur Freiheit erwachen..." Mit diesen Worten führt Jawaharlal Nehru in der Nacht zum 15. August 1947 Indien in die Unabhängigkeit. Der Vater von Indira Gandhi, Großvater Rajiv Gandhis und Urgroßvater des heutigen Parlamentsabgeordneten Rahul Gandhi wird erster Premierminister des unabhängigen Staates. Weltweit gibt es nur sehr wenige Politikerfamilien, die das Schicksal ihrer Völker mehr geprägt haben, als die Dynastie der Nehrus und der Gandhis.
Wohlhabende Anwaltsfamilie
Jawaharlal - der Name bedeutet Edelstein - Jawaharlal Nehru wird 1889 in eine wohlhabende Anwaltsfamilie geboren. Nach einer wohlbehüteten Kindheit schickt man ihn zur Vorbereitung auf seine Anwaltskarriere nach Cambridge und London. Er fühlt sich einsam. Als er zurückkehrt, wird er verheiratet und beginnt in der Kanzlei seines Vaters zu arbeiten. Doch die Politik und der Freiheitskampf ziehen ihn mehr und mehr in den Bann.
1929 wählt man Nehru zum Präsidenten des Indischen Nationalkongresses. Er ist Mahatma Gandhis wichtigster Mitstreiter im Kampf um die Unabhängigkeit, doch die beiden sind in vielen Punkten unterschiedlicher Auffassung.
Mit Jawaharlal Nehru in die Unabhängigkeit
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ist Großbritannien bereit, Indien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Mit der Unabhängigkeit beginnt für Nehru der bedeutendste Abschnitt seines Lebens. 17 Jahre lang leitet er als Premierminister die indische Regierung. Es ist sein Verdienst, dass der junge Staat eine säkulare Verfassung erhält. Wirtschaftspolitisch setzt Nehru auf eine Mischung aus staatlicher Planung und Marktwirtschaft. Nur zögerlich nimmt er die Landreform in Angriff, so dass sich an den halbfeudalen Verhältnissen auf dem Land wenig ändert. Nehru verfügt über mehr Macht als alle Premierminister nach ihm. Er ist gleichzeitig Außenminister und Vorsitzender der Planungskommission.
Nehru stirbt im Alter von 75 Jahren im Mai 1964. Entgegen seinem Willen - er war überzeugter Atheist - lässt ihn seine Tochter nach traditionellem Hindu-Ritus verbrennen.
Indira als "First Lady"
Nehrus einzige Tochter Indira wird 1917 geboren und erlebt eine unruhige Kindheit. Die Eltern verstehen sich schlecht und sprechen nach Streit oft tagelang nicht miteinander. Außerdem wird ihr Großvater, ihr Vater und später auch die Mutter häufig von den Engländern inhaftiert.
Nach dem frühen Tod der Mutter studiert sie einige Jahre in England. 1941 kehrt sie nach Indien zurück und heiratet bald Feroze Gandhi, einen Parsen aus ihrer Heimatstadt Allahabad. Das eheliche Klima kühlt stark ab, als Indira mit den beiden Söhnen Rajiv und Sanjay zu ihrem Vater zieht, um dem verwitweten Premier zur Seite zu stehen. Bei zahlreichen Anlässen übernimmt sie die Rolle der First Lady. Zwei Jahre nach dem Tod ihres Vaters erliegt sein Nachfolger Lal Bahadur Shastri einem Herzanfall.
Die Parteibosse brauchten jemanden, der fügsam war, schwach und willfährig gegenüber ihren Anweisungen - einen Lehmklumpen, den sie nach Bedarf zurechtkneten und umformen konnten. Sie einigten sich schließlich auf Indira Gandhi. Sie hatten, ohne es zu ahnen, ihr eigenes Todesurteil als Politiker unterschrieben.
Skrupellose Machtpolitikerin
Indira Gandhi erweist sich schnell als skrupellose Machtpolitikerin, die ihre Partei zu zähmen weiß, wenn auch zum Preis der Parteispaltung. Elf Jahre lang steht sie an der Spitze der Regierung. In ihre Regierungszeit fällt der Ausnahmezustand, bei dem demokratische Grundrechte stark beschnitten wurden.
1977 muss sich die Kongresspartei bei Wahlen erstmals geschlagen geben und für drei Jahre in die Opposition. Indira Gandhi gelingt 1980 ein Comeback, sie wird wieder Premierministerin. Im Alter von 67 Jahren wird sie 1984 von zwei Sikh-Leibwächtern erschossen.
Rajiv und Sonia
Ihr Sohn Rajiv, ein Pilot, wird als Premierminister vereidigt und gewinnt die folgenden Parlamentswahlen mit großer Mehrheit. Als Rajiv Gandhi 1991 mitten im Wahlkampf einem Selbstmordanschlag tamilischer Extremisten zum Opfer fällt, scheint der politische Einfluss der Nehru-Gandhi-Dynastie zu Ende. Doch der Mai 2004 bringt eine Überraschung. Unter der Führung von Rajivs italienisch-stämmiger Witwe Sonia gewinnt der Kongress die Parlamentswahlen.
Trotz starken Drucks lehnt Sonia die Übernahme des höchsten Amtes ab und ernennt Manmohan Singh zum neuen Premier. Ihr Sohn Rahul erhält ein Abgeordnetenmandat. Doch Beobachter sind überzeugt, dass es seine jüngere Schwester Priyanka ist, die "die Begabungen und den Killerinstinkt ihrer Großmutter geerbt hat".
Gelungenes Standardwerk
Tariq Ali gelingt es meisterhaft zu zeigen, wie Familienkonstellation, politische Rahmenbedingungen und der persönliche Charakter die Denk- und Handlungsweise der einzelnen Mitglieder der Nehru-Gandhi-Dynastie bestimmen. Neben den Porträts liefert er eine spannende Geschichte des modernen Indien. Die Schlüsselphasen stellt er ausführlich dar und verschafft auch Lesern mit wenig Vorwissen die nötige Orientierung. Stammbaum, Zeittafel und Kurzbeschreibungen der wichtigsten Persönlichkeiten und Parteien im Anhang machen das Buch zu einem gelungenen Standardwerk, das man auch ein zweites oder drittes Mal mit Genuss liest.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
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Buch-Tipp
Tariq Ali, "Die Nehrus und die Gandhis. Eine indische Dynastie", übersetzt von Erwin Duncker und Martin Pfeiffer, Heyne Verlag, ISBN 3453620151