Tür an Tür mit einem anderen Leben

8. April 2017, 21:58

Die Geschichten in Alexander Kluges neuem Buch handeln von Erderwärmung und Lebensentwürfen, von "Zeitgefühl" und "Zeitversetzung", vom Ersten und vom Zweiten Weltkrieg, von destruktivem Charakter und politischer Macht, von Lokomotiven und Zirkus, von Liebe und Barbarei und von Vater und Mutter; nicht zuletzt von jenen Themen also, die als die "Obsessionen" dieses ebenso vielseitigen wie produktiven Autors gelten, eines Autors, dessen Gedankengänge manchmal abenteuerliche Haken schlagen.

"Wir leben nicht in einer Gegenwart", meint Alexander Kluge. "Wir leben gleichzeitig in einer Vergangenheit, einer Zukunft und in der Möglichkeitsform, in einem Konjunktiv."

Kluges Geschichten dagegen sind "realistisch" - insofern, als sie vom Wirklichen handeln und zugleich vom Möglichen, von Fakten und Meinungen, sie verbinden Tatsachen und Empfindungen, Wahrnehmungen und Wünsche.

Leben in Parallelwelten

Der Intellektuelle Kluge ist ein weitschweifender Geist und diskussionsfreudiger Zeitgenosse, der vor kühnen Thesen und abenteuerlichen Assoziationen nicht zurückschreckt und über einen überreichen Erfahrungs- und Lesefundus verfügt, aus dem der Autor Kluge weidlich schöpfen kann. Einen "Hilfsgärtner im Garten der Kritischen Theorie" nennt sich der ehemalige Adorno-Schüler, aber auch einen Schriftsteller in der Tradition eines Novalis: Das Wissenschaftliche ist für ihn das Poetische.

Die Realität ist: Wir leben in Parallelwelten, sagt Alexander Kluge - und erzählt in seinen Geschichten, die immer wieder Splitter von Lebensläufen aufgreifen, wie das einzelne Schicksal sich in der großen Geschichte spiegelt und umgekehrt.

Eine Studentin verkehrt für ein paar Stunden in einem Grandhotel und probiert aus, wie sich das Leben der Reichen anfühlt; ein ungeduldiger Revoluzzer kann mit der revolutionären Bewegung nicht mehr Schritt halten, nachdem er sich beim Schifahren einen Haxn brach. Aber auch dort, wo Kluge nicht Rand-, sondern Zentralfiguren der Geschichte in den Focus seiner Storys rückt, sind es nicht die viel zitierten Heldentaten, die in ihn interessieren.

Nimmermüdes Sich-Gedanken-machen

"Tür an Tür mit einem anderen Leben" ist ein hoch ambitioniertes literarisches Projekt, eine riesige Materialsammlung, ein Kaleidoskop von Beschreibungen, Behauptungen, Erkenntnissen und Erklärungsmodellen.

Es dokumentiert einen nervös rumorenden Intellekt, ein sprunghaftes Erkenntnisinteresse, ein nimmermüdes Sich-Gedanken-machen, das ständig abschweift, auf etwas Neues kommt, sich in Einzelheiten verliert oder zu apodiktischen Sätzen versteigt: "Das Böse ist eine Mangelerscheinung", "Das Schöne ist fehlerfrei", "Die Welt wird zu einem Gefäß, in dem die Raubengel wüten". Alexander Kluge - ein Autor, beseelt von dem Glauben an die Lesbarkeit der Welt und die Wirkungsmacht der Literatur.

Das Internet des Alexander Kluge

Kluge schreibt über die "Selbstvergessenheit als Zahlungsmittel und Gewinnnerzielung in der Not", über Wunder und Aberglaube und Schein und Sein in der Operette, über asymmetrische Rache und die Trägheit des Fortschritts, über Hektors Tod und den Warschauer Aufstand, den Irak-Krieg und den Antichristen, über Nietzsche, Voltaire, Rosa Luxemburg und eine tüchtige chinesische Lehrerin.

Diesem Gedankenwildwuchs zu folgen, ist manchmal recht anstrengend, die verborgenen "Links" zu entdecken schier unmöglich. "Tür an Tür mit einem anderen Leben", dieses persönliche Internet des Alexander Kluge, ist erstaunlich umfangreich und anspruchsvoll - unbeschwertes Surfen, ungeteilten Lesegenusss und schnellen Erkenntnisgewinn garantiert es nicht.