Das Politische ist immer auch persönlich

Der moralische Anarchist

"Das Persönliche ist politisch. Und das Politische immer auch persönlich", sagt der Schweizer Ethnopsychologe Paul Parin. Er kämpfte mit den Mitteln der Psychoanalyse gegen gesellschaftliche Unterdrückung, totalitäres Denken und jede Form von Gewalt.

Wer das Alter lobt, hat ihm nie ins Antlitz geblickt.
Diesen Satz des italienischen Philosophen Norberto Bobbio zitiert der Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin immer wieder. Für den 90-Jährigen sind zur Zeit die regelmäßigen Anrufe alter Bekannter, die tägliche Visite der Krankenschwester und Besuche treuer Freunde die einzige Verbindung zur Außenwelt. Trotzdem wirkt Parin nicht verbittert.

"Eine Schwelle zum weiteren Greisentum ist, dass ich fast vollständig erblindet bin. Dann sagte man mir, du bist so mutig, wie du damit umgehst. Naja, erstens schätze ich die Eigenschaft des Mutes nicht unbedingt. Aber man ist auch nicht mutig wenn man mit dem Rücken zur Wand steht und nicht davonläuft. Es bleibt mir nur übrig, entweder muss ich jetzt sterben oder muss schauen dass ich damit so umgeh, dass das Leben noch einigermaßen möglich ist", sagt Perin.

Gegen jede Form der Gewalt

Paul Parin kämpfte stets mit den Mitteln der Psychoanalyse gegen gesellschaftliche Unterdrückung, totalitäres Denken, gegen jede Form von Gewalt an. Bereits 1944 schloss er sich aus Protest gegen die Untätigkeit der Schweizer Regierung gegenüber den Nationalsozialisten den Tito Partisanen an. Gemeinsam mit seiner späteren Frau Goldy baute er eines der größten Spitäler im ehemaligen Jugoslawien auf und nutzte seine medizinische Ausbildung, um verletzte Soldaten zu versorgen.

Die psychoanalytische Praxis, die er nach dem Krieg in der Schweiz bis in die 90er Jahre führte, war für ihn eine Fortsetzung dieses Partisanenkampfes. Eine Möglichkeit, an einer besseren Gesellschaft zu arbeiten, indem er Menschen Mut zum eigenständigen Denken und zur Anerkennung ihrer spezifischen Eigenart macht.

Eine neue Welt

Mitte der 50er Jahre brechen Goldy und Paul Parin gemeinsam mit ihrem Freund und Kollegen Fritz Morgenthaler zu mehreren Forschungsreisen nach Afrika auf. In einem Missionshospital beobachten sie Patienten mit psychologisch auffallenden Verhaltensweisen. Und versuchen sie nach europäischen Maßstäben zu analysieren.

Für das Forscherteam tut sich eine neue Welt auf. Eine, die sie unbedingt näher studieren wollen. Fünf weitere Reisen an die afrikanische Westküste zu den Dorfgemeinschaften der Dogon in Mali und den Agni, an der Elfenbeinküste, folgen. Jedes mal sind sie erneut gezwungen ihr eigenes Wissen radikal zurückzunehmen. Und die Methoden, die in Europa damals selbstverständlich waren, radikal in Frage zu stellen.

Pionier der Ethnopsychoanalyse

Das europäische Team merkt schnell dass es mit Freud allein in Afrika nur schwer weiterkommen würde. Und beschränkte sich darauf die Gesprächstechniken der Psychoanalyse in erster Linie dafür zu nutzen, Menschen ohne jegliche Vorgaben über sich selbst ins Reden zu bringen. Über ihre Wünsche und Sehnsüchte, Hoffnungen und geplatzten Träume. Eine kleine Revolution, gemessen an den Praktiken mit denen damals, Mitte der 50er Jahre Ethnologen außereuropäische Völker studiert haben.

Die Reisen nach Afrika haben das Team Parin/Morgenthaler auch zu Pionieren der so genannten Ethnopsychoanalyse gemacht. Sie nutzt die Freudschen Gesprächstechniken nicht als Behandlungsmethode. Sondern zur Erforschung der soziologischen und psychologischen Struktur von außereuropäischen Gesellschaften.

Zwei Kultbücher

Die Studien über die Dogon in Mali und das Volk der Agni an der Elfenbeinküste wurden zu Kultbüchern der 68er Bewegung. Der lebendige Einblick in vollkommen andere gesellschaftliche Wertvorstellungen und Verhältnisse bot eine willkommene Grundlage, um den Maßstab für Normalität und Abweichung auch in der eigenen Gesellschaft radikal in Frage zu stellen.

Beide Dokumentationen werden unter dem Titel "Die Weißen Denken zu viel" und "Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst" anlässlich des 90. Geburtstages von Paul Parin in diesem Herbst neu aufgelegt.

Hör-Tipp
Tonspuren, Freitag, 15. September 2006, 22:15 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipp
Paul Parin, "Die Weißen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika", Europäische Verlagsanstalt, ISBN 3434506020

Paul Parin, "Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika", Psychosozial-Verlag, ISBN 389806462