Eine Diskussion von Adorno, Horkheimer und Kogon

Die Krise des Individuums

1950 trafen einander drei Persönlichkeiten des deutschen Geisteslebens zur Diskussion im Studio: der Politikwissenschafter Eugen Kogon und die Philosophen und Soziologen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Ö1 strahlt die historische Aufnahme aus.

Ein Gespräch aus dem Jahr 1950

Freiheitsverlust, der sinkende Grad an Selbstverwirklichung, der Zwang zur gesellschaftlichen Anpassung und die Ent-Wertung von Werten wie Moral waren Thema eines Frankfurter Diskurses im Herbst des Jahres 1950.

Wenn aber veränderungswirksame Werte wie Freiheit und Moral keine Realität im Leben haben, dann - so Eugen Kogon - verlösche ihre gesellschaftsverändernde Wirkung. "Das Leben hört auf zu leben."

Der Sinnentleerung versuchen die Menschen mit Hilfe der Psychoanalyse zu entkommen. Doch - merkt Max Horkheimer kritisch an - damit würden sie sich bloß in die Lage versetzen, die Anpassung besser zu erdulden und ihre Verwaltung leichter zu ertragen.

Dass der Verlust äußerer wie innerer Freiheit Ursache sein kann für anwachsenden Zorn, darüber haben vor mehr als einem halben Jahrhundert der Politikwissenschafter Eugen Kogon und die beiden Professoren für Philosophie und Soziologie Max Horkheimer und Theoror W. Adorno diskutiert. Österreich 1 strahlt das historische Dokument aus.

Eugen Kogon: Herr Professor Horkheimer, Herr Professor Adorno, ich wollte unser Gespräch über die verwaltete Welt beginnen mit der Feststellung, dass der moderne Mensch herumirrt, suchend nach seiner Freiheit. Und die Art, wie ich eben zu unserem Gespräch gekommen bin, und wie ich weiß, dass auch Sie kamen, die erinnert mich sehr an diesen Zustand. Jetzt, vor einer halben Stunde, sollte ich bereits woanders sein. Und von Ihnen, Herr Professor Horkheimer, weiß ich, dass Sie in einer Viertelstunde bereits in Bad Nauheim sein sollen. Und wir wollen uns doch ausgiebig, ruhig und vernünftig über dieses so enorm wichtige Thema unterhalten. Und da sitzen wir also, sozusagen zitternd, nervös, weil andere Termine auf uns warten. Von diesem Zustand müssen wir frei werden. Ich für meine Person werde jedenfalls bei unserem Gespräch jetzt so tun, als ob ich beliebig Zeit hätte. Und ich denke, dass aus diesem "als ob" eine Wirklichkeit werden kann. Und das ist, glaube ich, genau das Thema unserer Unterhaltung. Ob es möglich ist, eine solche Haltung einzunehmen und daraus eine neue Wirklichkeit zu machen?

Theodor W. Adorno: Vielleicht darf ich anknüpfen an eine Erfahrung, die ich immer wieder mache bei der Lektüre von Romanen, sowohl von älteren wie von zeitgenössischen Romanen. Es drängt sich mir nämlich dabei eine merkwürdige Unwahrheit auf. Nicht die, dass die berichteten Vorgänge erfunden sind, sondern die, dass es fast wie eine Lüge scheint, dass die Menschen, die in den Romanen vorkommen, so beschrieben werden, als ob sie noch frei wären. Als ob von ihrem individuellen Handeln, ihren Motiven, dem, was sie eigentlich zu Individuen macht, überhaupt noch etwas abhinge, während man doch das Gefühl hat, dass die überwiegende Mehrheit aller Menschen längst herabgesetzt ist zu bloßen Funktionen innerhalb der ungeheuerlichen gesellschaftlichen Maschinerie, in die wir alle eingespannt sind.

Man kann es vielleicht so extrem formulieren, dass man sagt, dass es eigentlich Leben in dem Sinn, der mit dem Wort "Leben" für uns alle mitschwingt, nicht mehr gebe. Und dieses Phänomen, das ich damit zu bezeichnen suche, das scheint mir in der Tat der sinnfälligste Ausdruck dessen zu sein, wovon wir heute reden wollen, nämlich vom Übergang der ganzen Welt, des ganzen Lebens an ein System von Verwaltung, an eine bestimmte Art der Steuerung von oben.

Max Horkheimer: Ich glaube, Ihre Erfahrung ist richtig, Herr Adorno. Die Menschen haben ihr Leben, ihr eigenes Leben verloren. Sie leben das Leben, das durch die Gesellschaft vorgezeichnet ist. Wenngleich die Menschen heute die Mittel hätten, viel freier zu existieren als zu jeder anderen Zeit, so stehen sie doch unter einem Druck, der wohl mit kaum einer anderen Zeit vergleichbar ist. Und zwar nicht nur die höheren Schichten, sondern alle sozialen Schichten in der Gesellschaft.

Sartre hat ja diese Frage zum Thema gemacht. Freilich sagt er nicht, dass die Menschen ihr Leben verloren hätten. Er meint, dass sie unfähig geworden seien sich zu entscheiden. Aber gleich hier möchte ich doch ein Bedenken anmelden. Die Menschen machen auch jetzt noch ihre Geschichte, nur wissen sie es nicht. Sie entscheiden sich auch jetzt noch, aber sie entscheiden sich dazu mitzumachen. Die Menschen sind heute von der Verwaltung erfasst, aber sie müssten es nicht sein.

Hör-Tipp
Im Gespräch, Donnerstag, 14. September 2006, 21:01 Uhr

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