Begegnung mit Folgen

Architektur einer Liebe

Liebe hängt nicht von günstigen Voraussetzungen ab. Hier nicht und auch nicht in den anderen Büchern von Evelyn Schlag, in denen sie zeigt, wie Menschen durch eine Begegnung verändert werden und in denen sie die radikale Liebe zum Thema macht.

Am Anfang steht ein Blick, von dem sich beide nicht lösen können. Später, wenn sie wieder zu Hause sind, werden sie ihn imaginieren und nicht davon loskommen. Doch jetzt, in der Eremitage von St. Petersburg, bleibt es bei diesem einzigen Blick. Die beiden wissen noch nicht, dass damit eine große Liebesgeschichte beginnt.

Multikulturalität als Gegenpol

Die beiden: Das sind Toria Monti, die international berühmte Architektin, die in Paris lebt, aber in der ganzen Welt zu Hause ist, und Wolf Lewinter aus Wien, Architekt auch er, aber weniger in der globalisierten Architektursprache zu Hause als in den Formen regionalen Bauens. Zwei sehr unterschiedliche Lebensentwürfe also. Dazu kommt, dass Wolf erst vor kurzem seinen elfjährigen Sohn zu sich geholt hat und mit ihm zu leben versucht. Keine guten Voraussetzungen also für eine große Liebe. Liebe hängt aber nicht von günstigen Voraussetzungen ab.

Toria Monti, gleichzeitig selbstbewusst und leidensfähig, ist von den beiden diejenige, die stärker und selbstverständlicher an diese Liebe glaubt. Und sie ist im Buch mit einer größeren biografischen Tiefenschärfe ausgestattet.

Sie wurde als Italienerin in Alexandria geboren, und dieses Alexandria der 1950er Jahre mit seiner gewachsenen und an einem konkreten Ort verwurzelten Multikulturalität leuchtet immer wieder als Gegenpol auf gegen das oberflächliche Zusammentreffen von Sprach- und Kulturfragmenten in einer mondänen Jet-Set-Society.

Genaue Recherchen

Evelyn Schlag hat in den drei Jahren, in denen sie am Roman gearbeitet hat, vor allem im Architektenmilieu recherchiert. Wie sich ihr Roman "Die göttliche Ordnung der Begierden" dadurch auszeichnet, dass er die Lebenswelt eines Priesters genau ausleuchtet, oder "Das L in Laura" von genauen Details einer Schriftsteller-Existenz lebt, so ist der neue Roman auch eine Sonde in das Architektenmilieu.

Gleichzeitig ist Architektur in diesem Buch noch viel mehr als ein Milieu: Wie eine materialisierte Zeitdiagnose bildet sie die Auflösung fester Strukturen und Konturen der modernen Lebenswelt ab. Vor allem aber ist Architektur, wie der Titel vielleicht sogar allzu deutlich nahe legt, die Großmetapher für die Liebe zwischen Toria und Wolf. Was mit den "tiefen Blicken" - um ein bekanntes Goethe-Gedicht zu zitieren - beginnt, braucht sehr viel bewusst gebaute Architektur.

Welt- und Körperwahrnehmungen

Große Entfernungen werden zurückgelegt in diesem Roman, Schauplätze wechseln einander ab: Nach jenem ersten Blick in der Eremitage treffen sich Toria und Wolf zufällig in den USA wieder, er besucht sie bei ihrer Familie in Mailand, sie kommt zu ihm nach Wien. Und das letzte Kapitel führt sie noch einmal nach Alexandria.

Nicht die Dramatik äußerer Ereignisse konstituiert diesen Roman, sondern die Sprache, die er für Beziehungen, Welt- und Körperwahrnehmungen findet. "Mich interessieren keine großen Entwürfe, wenn sie nicht durch die Sätze gedeckt sind", hat Evelyn Schlag vor kurzem in einem Essay über Ingeborg Bachmann in der Zeitschrift "manuskripte" geschrieben. Und diese Forderung, an der sie Literatur misst, löst sie auch selbst ein. Kein behagliches Erzählen strömt hier dahin in vorgefertigten Sätzen, keine langen Beschreibungen - es sind immer wieder kurze Erinnerungsfragmente und aufblitzende Empfindungen, die in sehr individuellen Sätzen Gestalt werden.

"Wie viel Alltag brauchen wir? Wie viel Gewöhnung? Wie viel Redundantes? Können wir auf Dauer in dieser Notfallsituation leben? Diesem Ausnahmezustand?" Das fragen sich Toria und Wolf, als sie wieder einmal zusammen sind. Jetzt sind sie sich dessen sicher: Endgültige Antwort gibt es keine.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 3. September 2006, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Evelyn Schlag, "Architektur einer Liebe", Zsolnay Verlag, ISBN 3552053883