Ein Gespräch mit Wlodzimierz Borodziej

Wie europäisch sind die Polen?

Seit dem Amtsantritt der Kaczynski-Zwillinge in Warschau wachsen in vielen europäischen Hauptstädten die Zweifel daran, ob Polen am europäischen Grundkonsens teilnimmt. Joana Radzyner hat darüber mit dem Historiker Wlodzimierz Borodziej gesprochen.

Gesprächsexkurs über Polens Außenpolitik

Dass Polen - mit seinen fast 40 Millionen Bürgern der größte EU-Neuling nach der letzten Erweiterungsrunde - kein einfacher Partner sein würde, das war auch in Brüssel bekannt. Seit dem Amtsantritt der Kaczynski-Zwillinge als Präsident und Premier wachsen jedoch mehr und mehr die Zweifel daran, ob Polen überhaupt am europäischen Grundkonsens teilnimmt.

Darüber und über die historischen Wurzeln der autoritären Tendenzen in der polnischen Politik sprach Joana Radzyner mit dem international anerkannten Zeithistoriker und Publizisten Wlodzimierz Borodziej.

Die historische Ausgangslage

"Polen war in den 1980er Jahren ein Armenhaus Europas - ein Land, in dem Lebensmittel rationiert wurden, in dem man das Gefühl hatte, mit dem kommunistischen System geht es in keinem Fall aufwärts. Als dann 1989 die Machtübernahme durch die Solidarnosc erfolgte, stand daher nicht so sehr das Freiheitserlebnis im Vordergrund. Denn obwohl in erster Linie die Freude groß war, dass mit dieser Wahl dieses totalitäre System so eindeutig abgewählt worden ist, herrschte damals auch große Unsicherheit, wie in diesem hoch verschuldeten Land plötzlich Marktwirtschaft betrieben werden kann“, erinnert sich Wlodzimierz Borodjziej.

Heute sei die Situation jedoch eine völlig andere, betont der Zeithistoriker: "Wenn man heute ausländische Zeitungen durchblättert, merkt man, dass Polen nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und kulturell präsent ist". Dennoch - so Borodjziej - habe man nach der inneren Spaltung von Solidarnosc und dem jetzigen Amtsantritt der Kaczynski-Zwillinge den Eindruck, dass die Situation in Polen politisch schlechter sei als vor 17 Jahren.

Die vierte Republik

Polen habe sich zwar rapide modernisiert, auch wirtschaftlich gebe es weniger Probleme, politisch gesehen sei Polen aber weder international erfolgreich, noch national, meint der Zeithistoriker. Es herrsche ein Trend zum Rechtspopulismus vor - eine Entpolitisierung des Sozialen und eine Entsozialisierung des Politischen: "Die Bürger, die nicht pro-politisch eingestellt sind, haben sich abgekoppelt. Das war bei den letzten Parlamentswahlen deutlich erkennbar, wo nur etwa 40 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen gegangen sind."

Nach den Worten von Borodziej.dürfe man dabei nicht vergessen, dass die heute regierende Partei nur 27 Prozent der Stimmen bekommen habe. Die Regierung tue aber so, als habe sie die Mehrheit: "Es hat sich ein Gefühl der Machtlosigkeit - ähnlich wie im alten System - ausgebreitet. Die Bürger haben das Gefühl, keinen Einfluss auf die Politik zu haben." Man könne den Brüdern Kaszinski zwar durchaus zustimmen, dass der staatliche Anteil an der Dritten Republik weit weniger erfolgreich gewesen sei als die sonstigen Lebensgebiete: "Nur ob da jetzt die vom Institut für Nationale Erziehung vorgesehene patriotische Erziehung notwendig ist, wird allgemein bezweifelt", meint der Historiker.

Polen und die EU

Die betont Europa kritische Haltung der neuen polnischen Regierung wird seiner Meinung nach von der polnischen Bevölkerung nicht geteilt:

"Das Vertrauen in dieses Brüssel, das ja von der Rechten, die eben die Wahlen gewonnen hat, nur schlecht gemacht wird - und das seit 1990 - jenes Vertrauen in diese westliche Institution ist zwei- bis dreimal so hoch wie jenes in die polnische. Also es ist nicht so, dass die Polen verrückt geworden sind. Es ist nur so, dass ein Teil der politischen Klasse beschlossen hat, einen anti-westlichen oder betont westlich kritischen Kurs zu führen, der an der Stimmung im Land in der Mehrheit der Gesellschaft völlig vorbeigeht".

Der polnische Katholizismus

Der Zeithistoriker analysiert auch die Wurzeln des politischen Katholizismus und meint, die römisch-katholische Kirche habe nach wie vor eine Ausnahmestellung. Das werde - bedingt durch die historische Rolle - auch in Zukunft so bleiben, denn Kritik gegenüber der Kirche finde in der breiten Öffentlichkeit nicht statt.

In diesem Zusammenhang sieht Borodziej auch eine gewisse Ähnlichkeit mit den USA, wo ja auch christliche Religionsgemeinschaften ein politischer Faktor geworden seien. Von den USA habe Polen - historisch bedingt - ein durchwegs positives Bild. Erst in jüngster Zeit habe sich dieses Bild durch den Irak-Krieg verändert, vor allem bei den Jüngeren. Hier könne man erstmals anti-amerikanische Gefühle orten.

Zensur stößt auf Unverständnis

Nach Meinung von Wlodzimierz Borodziej sind es vor allem auch die Jungen, die mit der Vorstellung einer vierten Republik überhaupt nichts anfangen können. Dies werde sich auch auf die politische Großwetterlage im Land niederschlagen, meint er:

"Für ein solches Polen werden die Jugendlichen künftig ihre Stimme nicht hergeben - verständlicherweise -, denn sie sind ja verglichen mit früher unter völlig anderen Verhältnissen aufgewachsen", so der Zeithistoriker. Wenn man nun von einer Rückkehr der Zensur spreche oder versuche, eine moralische Zensur einzuführen, stoße das natürlich auf Unverständnis, aber nicht nur bei den Jugendlichen.

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Europa-Journal, Freitag, 25. August 2006, 18:20 Uhr

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Links
Uniwersytet Warszawski - Wlodzimierz Borodziej
europa-digital - Polen und Europa
Wikipedia - Polen