Frank McCourts Erinnerungen
Tag und Nacht und auch im Sommer
Charme, Witz, genaue Beobachtung, viel Selbstironie und eine geradezu unbezähmbare Fabulierlust: Das sind die literarischen Merkmale Frank McCourts. Wie seine beiden vorigen Bücher ist auch dieses durch und durch autobiografisch.
8. April 2017, 21:58
Frank McCourt ist fraglos ein Sonderfall der aktuellen Literatur: Als 1996 sein erstes Buch erschien, war der irisch-stämmige New Yorker 65 Jahre alt. "Die Asche meiner Mutter", englischer Originaltitel "Angela's Ashes", geriet zum Sensationserfolg. McCourt erhielt den Pulitzerpreis, das Buch erreichte weltweit immense Auflagenzahlen und wurde in Hollywood unter der Regie Alan Parkers verfilmt. Der pensionierte Englischlehrer Frank McCourt hatte zu diesem Zeitpunkt sein Leben eigentlich schon hinter sich.
Nach dem unvorhergesehenen Riesenerfolg brachte McCourt dann 1999 den zweiten Teil seines Lebens in Buchform heraus: "Ein rundherum tolles Land" handelte von seiner Emigration nach Amerika, seinem zweijährigen US-Militäreinsatz in Deutschland und von seinem Studium, das er durch Aushilfsjobs finanzierte. Nun ist ein drittes Buch des irisch-amerikanischen Autors erschienen, das seine Zeit als Lehrer zum Inhalt hat.
High-School-Kids sind eine eigene Spezies
Der Pädagogikprofessor an der New York City University hatte uns vor den Fallstricken unserer künftigen Lehrtätigkeit gewarnt. Sie haben es mit amerikanischen Teenagern zu tun, einer gefährlichen Spezies, sagte er. Die haben kein Erbarmen mit Ihnen. Ein Urinstinkt treibt sie dazu, Sie zur Strecke zu bringen. Denn das ist eine Schulklasse: eine Meute. Und Sie sind zwar ein Lehrer, aber auch ein Krieger.
Frank McCourt erzählt von seiner 30-jährigen Berufstätigkeit als Englischlehrer an New Yorker Schulen. Rechtschreibung, Grammatik, Wortschatz, Literaturgeschichte - nicht eben die Themen, für die sich 16-jährige High-School-Kids leicht begeistern lassen. Für die Rolle des Kriegers im Klassenzimmer ist der literaturbegeisterte Lehrer irischer Abstammung schlicht nicht geboren. Der erste Kontakt des Jungpädagogen mit seiner ersten Klasse schlägt denn auch gründlich fehl. Die Schüler sitzen noch gar nicht richtig, da wirft einer dem anderen schon sein Pausenbrot an den Kopf.
Die Klasse johlte. "He", rief ich. Sie beachteten mich gar nicht. Ich ging zu Petey und sagte meinen ersten, meinen allerersten Satz als Lehrer: "He! Hör auf, mit Sandwiches um dich zu schmeißen." Es war eine Sekunde ruhig, da sagte einer aus der letzten Reihe: "He, Mister, wieso sagen sie ihm jetzt, er soll nicht mit dem Sandwich schmeißen. Er hat das Sandwich schon geschmissen." Alle lachten. Es gibt nichts Dümmeres als einen Lehrer, der etwas verbietet, was man schon getan hat.
Zweischneidiges Schwert
Ein Lehrer ist nicht nur ein Lehrer, muss der junge Pädagoge bald feststellen. Er ist auch Gangaufseher. Er soll verhindern, dass auf der Toilette geraucht wird. Er muss häufige Gewaltausbrüche der Halbwüchsigen stoppen. Er soll den Drogenhandel an der Schule unterbinden. Und was macht ein Englischlehrer, wenn er in einem Aufsatz der 15-jährigen Janice liest, ihr Stiefvater pflege einen allzu vertraulichen Umgang mit ihr, besonders wenn die Mutter Überstunden mache? Was soll ich tun, fragt das Mädchen. Ist das ein Hilferuf?
Tut der Lehrer nichts, könnte er seinen Namen demnächst auf Seite drei des lokalen Boulevardblatts finden, Schlagzeile: "Lehrer ignoriert sexuellen Missbrauch einer Minderjährigen." Bittet er das Mädchen hingegen zu einem Gespräch, alarmiert er einen Beratungslehrer, kann er sich schnell den Vorwurf einhandeln, seine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken. Sehr wahrscheinlich hat Janice das Ganze ja erfunden. In 30 Jahren Schuldienst, da kommt einem viel unter.
Ein begnadeter Erzähler
Wie schon seine bisherigen Bücher ist auch der neue McCourt durch und durch autobiografisch. "Erinnerungen", nicht "Roman" steht auf dem Umschlag. McCourt erzählt einfach aus seinem Leben, und dieses Leben ist nicht einmal ein besonderes: bitterarme Kindheit in Irland, Emigration in die USA, ein Studium als Armee-Stipendiat nach zweijährigem Militärdienst, 30 Jahre als Englischlehrer in New York.
Und doch versteht es der gebürtige Ire, seine Leser jederzeit bei Laune zu halten. Frank McCourt ist ein begnadeter Erzähler. Wovon auch immer er berichtet, es ist immer farbig, witzig, geistreich und ganz nah dran an unser aller "wirklichem Leben". McCourt ist klug, weise, immer ein wenig melancholisch, und versteht es doch, seine Weisheit und Traurigkeit in derart sprühende Sätze zu verpacken, dass man endlos zuhören möchte.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 18. August 2006, 16:30 Uhr
Ex libris, Sonntag, 20. August 2006, 18:15 Uhr
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Buch-Tipp
Frank McCourt, "Tag und Nacht und auch im Sommer. Erinnerungen", ins Deutsche übersetzt von Rudolf Hermstein, Luchterhand Literaturverlag, ISBN 3630872395