Kritik ist überflüssig geworden
Marlene Streeruwitz im Gespräch
Vor der Folie eines sinnentleerten Kulturbetriebs und der Londoner Terroranschläge beschreibt Marlene Streeruwitz in "Entfernung" das Scheitern einer Kulturmanagerin. Im "Ex libris"-Interview spricht sie über Neoliberalismus und das Scheitern des Feminismus.
8. April 2017, 21:58
Katja Gasser im Gespräch mit Marlene Streeruwitz
Marlene Streeruwitz hat immer das große Ganze vor Augen, die Gesellschaft, den Staat, globale Wirtschaftsprozesse und die Korrumpierbarkeit des Einzelnen durch die längst korrumpierte Masse. Sie nimmt Begriffe wie Engagement und Aufklärung ernst, wie wohl sie weiß, dass die Wirkung von Literatur begrenzt ist.
In "Entfernung" erzählt Streeruwitz von einer Frau namens Selma und vom Zusammenbruch einer vom Wiener Kulturbetrieb zusammen gehaltenen Scheinwelt. Selma zieht aus ihrer Scheinwelt aus, geht auf Abenteuersuche nach London, um an Texten der 1997 aus dem Leben geschiedenen Autorin Sarah Kane zu arbeiten, und gerät in die Londoner U-Bahnanschläge des Jahres 2005. Die Funktion des Terrors im Roman ist, zu belegen, dass es in jedem Augenblick des Lebens ums Ganze geht.
Kritik am Kulturbetrieb
Marlene Streeruwitz sagt über diese ehemalige Dramaturgin der Wiener Festwochen, dass sie sich ihre Funktion im Kulturmanagement zugelegt habe, um sich die Kunst vom Leib zu halten. "Es ist die Geschichte einer törichten Person, die nicht weiß, dass sie selbst schon überflüssig ist und die auszieht, um der Welt ihre Wichtigkeit zu beweisen", sagt die Autorin über die von ihr geschaffene Figur.
Selma ist durchaus repräsentativ für den heutigen Kulturbetrieb insgesamt. Ein Kultur"betrieb", der, gemessen an ihren eigenen in den 1970er Jahren geschulten Ansichten, treffender als Unterhaltungsbetrieb zu bezeichnen sei. "Es gibt keine Anzeichen mehr für die Suche nach kritischer Wahrheit", beklagt Marlene Streeruwitz im Ex-libris-Gespräch mit Katja Gasser.
Bittere Bilanz
Kritik, so Streeruwitz, wird unter neoliberalen Bedingungen überflüssig, weil damit keine Wertschöpfung zu erzielen sei. Sie selbst, sagt sie, könne gar nicht anders, als aus Verpflichtung für diese Gesellschaft, die Suche nach der Wahrheit weiter zu betreiben. "Das ist in privaten Räumen weiterhin möglich. Im öffentlichen Raum, wie wir ihn kennen, ist das weitgehend vorbei", zieht die Autorin eine bittere Bilanz.
Ihre eigenen Texte versteht die Autorin als Gegenposition zur umfassenden Metaphysik der Unterhaltung. Streeruwitz: "Das macht sie mühsam und auf eine dringliche Art langweilig".
Buch-Tipp
Marlene Streeruwitz, "Entfernung", Roman, S. Fischer Verlag ISBN 3100744322
Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendung "Ex libris" vom Sonntag, 6. August 2006, 18:05 Uhr, mit dem Gespräch mit Marlene Streeruwitz nach Ende der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.
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